Selbstbiographie von Karl May Band I Freiburg i. Br.Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld Druck der Hoffmannschen Buchdruckerei in Stuttgart. Wenn dich die Welt aus ihren Toren stoesst, So gehe ruhig fort, und lass das Klagen. Sie hat durch die Verstossung dich erloest Und ihre Schuld an dir nun selbst zu tragen. (Karl May “Im Reiche des silbernen Loewen”) Inhalt. _____ I. Das Maerchen von Sitara II. Meine Kindheit III. Keine Jugend IV. Seminar- und Lehrerzeit V. Im Abgrunde VI. Bei der Kolportage VII. Meine WerkeVIII. Meine Prozesse IX. Schluss _________ I. Das Maerchen von Sitara. _____ Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden Weges nach der Sonne geht und dann in derselben Richtung noch drei Monate lang ueber die Sonne hinaus, so kommt man an einen Stern, welcher Sitara heisst. Sitara ist ein persarabisches Wort und bedeutet eben “Stern”. Dieser Stern hat mit unserer Erde viel, sehr viel gemein. Sein Durchmesser ist 1700 Meilen und sein Aequator 5400 Meilen lang. Er dreht sich um sich selbst und zugleich auch um die Sonne. Die Bewegung um sich selbst dauert genau einen Tag, die Bewegung um die Sonne ebenso genau ein Jahr, keine Sekunde mehr oder weniger. Seine Oberflaeche besteht zu einem Teile aus Land und zu zwei Teilen aus Wasser. Aber waehrend man auf der Erde bekanntlich fuenf Erd- oder Weltteile zaehlt, ist das Festland von Sitara in anderer, viel einfacherer Weise gegliedert. Es haengt zusammen. Es bildet nicht mehrere Kontinente, sondern nur einen einzigen, der in ein sehr tiefgelegenes, suempfereiches Niederland und ein der Sonne kuehn entgegenstrebendes Hochland zerfaellt, welche beide durch einen schmaeleren, steil aufwaertssteigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden sind. Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen und reissenden Tieren reich und allen von Meer zu Meer dahinbrausenden Stuermen preisgegeben. Man nennt es Ardistan. Ard heisst Erde, Scholle, niedriger Stoff, und bildlich bedeutet es das Wohlbehagen im geistlosen Schmutz und Staub, das ruecksichtslose Trachten nach der Materie, den grausamen Vernichtungskampf gegen Alles, was nicht zum eigenen Selbst gehoert oder nicht gewillt ist, ihm zu dienen. Ardistan ist also die Heimat der niedrigen, selbstsuechtigen Daseinsformen und, was sich auf seine hoeheren Bewohner bezieht, das Land der _Gewalt-und_Egoismusmenschen. Das Hochland hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und schoen im Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur und Produkten des menschlichen Fleisses, ein Garten Eden, ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan. Dschinni heisst Genius, wohltaetiger Geist, segensreiches unirdisches Wesen, und bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb nach Hoeherem, das Wohlgefallen am geistigen und seelischen Aufwaertssteigen, das fleissige Trachten nach Allem, was gut und was edel ist, und vor allen Dingen die Freude am Gluecke des Naechsten, an der Wohlfahrt aller derer, welche der Liebe und der Hilfe beduerfen. Dschinnistan ist also das Territorium der wie die Berge aufwaertsstrebenden Humanitaet und Naechstenliebe, das einst verheissene Land der Edelmenschen. Tief unten herrscht ueber Ardistan ein Geschlecht von finster denkenden, selbstsuechtigen Tyrannen, deren oberstes Gesetz in strenger Kuerze lautet: “D u s o l l st d e r T e u f e l d e i n e s N ae ch st e n s e i n, d a m i t d u d i r s e l b s t z u m E n g e l w e r d e st!” Und hoch oben regierte schon seit undenklicher Zeit ueber Dschinnistan eine Dynastie grossherziger, echt koeniglich denkender Fuersten, deren oberstes Gesetz in beglueckender Kuerze lautet: “D u s o l l st d e r E n g e l d e i n e s N ae ch st e n s e i n, d a m i t d u n i ch t d i r s e l b st z u m T e u f e l w e r d e st!” Und solange dieses Dschinnistan, dieses Land der Edelmenschen, besteht, ist ein jeder Buerger und eine jede Buergerin desselben verpflichtet gewesen, heimlich und ohne sich zu verraten der Schutzengel eines resp. einer Andern zu sein. Also in Dschinnistan Glueck und Sonnenschein, dagegen in Ardistan ringsum eine tiefe, seelische Finsternis und der heimliche weil verbotene Jammer nach Befreiung aus dem Elende dieser Hoelle! Ist es da ein Wunder, dass da unten im Tieflande eine immer groesser werdende Sehnsucht nach dem Hochlande entstand? Dass die fortgeschrittenen unter den dortigen Seelen sich aus der Finsternis zu befreien und zu erloesen suchen? Millionen und Abermillionen fuehlen sich in den Suempfen von Ardistan wohl. Sie sind die Miasmen gewohnt. Sie wollen es nicht anders haben. Sie wuerden in der reinen Luft von Dschinistan nicht existieren koennen. Das sind nicht etwa nur die Aermsten und Geringsten, sondern grad auch die Maechtigsten, die Reichsten und Vornehmsten des Landes, die Pharisaeer, die Suender brauchen, um gerecht erscheinen zu koennen, die Vielbesitzenden, denen arme Leute noetig sind, um ihnen als Folie zu dienen, die Bequemen, welche Arbeiter haben muessen, um sich in Ruhe zu pflegen, und vor allen Dingen die Klugen, Pfiffigen, denen die Dummen, die Vertrauenden, die Ehrlichen unentbehrlich sind, um von ihnen ausgebeutet zu werden. Was wuerde aus allen diesen Bevorzugten werden, wenn es die Andern nicht mehr gaebe? Darum ist es Jedermann auf das allerstrengste verboten, Ardistan zu verlassen, um sich dem Druck des dortigen Gesetzes zu entziehen. Die schaerfsten Strafen aber treffen den, der es wagt, nach dem Lande der Naechstenliebe und der Humanitaet, nach Dschinnistan zu fluechten. Die Grenze ist besetzt. Er kommt nicht durch. Er wird ergriffen und nach der “Geisterschmiede” geschafft, um dort gemartert und gepeinigt zu werden, bis er sich vom Schmerz gezwungen fuehlt, Abbitte leistend in das verhasste Joch zurueckzukehren. Denn zwischen Ardistan und Dschinnistan liegt Maerdistan, jener steil aufwaertssteigende Urwaldstreifen, durch dessen Baum- und Felsenlabyrinthe der unendlich gefahrvolle und beschwerliche Weg nach oben geht. Maerd ist ein persisches Wort; es bedeutet “Mann”. Maerdistan ist das Zwischenland, in welches sich nur “Maenner” wagen duerfen; jeder Andere geht unbedingt zu Grunde. Der gefaehrlichste Teil dieses fast noch ganz unbekannten Gebietes ist der “Wald von Kulub”. Kulub ist ein arabisches Wort; es bedeutet die Mehrzahl des deutschen Wortes “Herz”. Also in den Tiefen des Herzens lauern die Feinde, die man, einen nach dem andern, zu besiegen hat, wenn man aus Ardistan nach Dschinnistan entkommen will. Und mitten in jenem Walde von Kulub ist jener Ort der Qual zu suchen, von dem es in “Babel und Bibel,” Seite 78 heisst: “Zu Maerdistan, im Walde von Kulub, Liegt einsam, tief versteckt, die Geisterschmiede. Da schmieden Geister?” “Nein, man schmiedet sie! Der Stumm bringt sie geschleppt, um Mitternacht, Wenn Wetter leuchten, Traenenfluten stuerzen. Der Hass wirft sich in grimmiger Lust auf sie. Der Neid schlaegt tief ins Fleisch die Krallen ein. Die Reue schwitzt und jammert am Geblaese. Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug Im russigen Gesicht, die Hand am Hammer. Da, jetzt, o Scheik, ergreifen dich die Zangen. Man stoesst dich in den Brand; die Baelge knarren. Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus, Und Alles, was du hast und was du bist, Der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen, Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut, Gedanken und Gefuehle, Alles, Alles Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert Bis in die weisse Glut — — –“ “Allah, Allah!” “Schrei nicht, o Scheik! Ich sage dir, schrei nicht! Denn wer da schreit, ist dieser Qual nicht wert, Wird weggeworfen in den Brack und Plunder Und muss dann wieder eingeschmolzen werden. Du aber willst zum Stahl, zur Klinge werden, Die in der Faust der Parakleten funkelt. Sei also still! Man reisst dich aus dem Feuer — — Man wirft dich auf den Amboss — — haelt dich fest. Es knallt und prasselt dir in jeder Pore. Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister. Er spuckt sich in die Faeuste, greift dann zu. Hebt beiderhaendig hoch den Riesenhammer — — — Die Schlaege fallen. Jeder ist ein Mord, Ein Mord an dir. Du meinst, zermalmt zu werden. Die Fetzen fliegen heiss nach allen Seiten. Dein Ich wird duenner, kleiner, immer kleiner, Und dennoch musst du wieder in das Feuer — — Und wieder — — immer wieder, bis der Schmied Den Geist erkennt, der aus der Hoellenqual Und aus dem Dunst von Russ und Hammerschlag Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlaechelt. Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile. Die kreischt und knirscht und frisst von dir hinweg Was noch — — –“ “Halt ein! Es ist genug!” “Es geht noch weiter, denn der Bohrer kommt, Der schraubt sich tief — — –“ “Sei still! Um Gottes willen!” u. s. w. u. s. w. So also sieht es in Maerdistan aus, und so also geht es im Innern der “Geisterschmiede von Kulub” zu! Jeder Bewohner des Sternes Sitara kennt die Sage, dass die Seelen aller bedeutenden Menschen, die geboren werden sollen, vom Himmel herniederkommen. Engel und Teufel warten auf sie. Die Seele, welche das Glueck hat, auf einen Engel zu treffen, wird in Dschinnistan geboren, und alle ihre Wege sind geebnet. Die arme Seele aber, welche einem Teufel in die Haende faellt, wird von ihm nach Ardistan geschleppt und in ein um so tieferes Elend geschleudert, je hoeher die Aufgabe ist, die ihr von oben mitgegeben wurde. Der Teufel will, sie soll zu Grunde gehen, und ruht weder bei Tag noch bei Nacht, aus dem zum Talent oder gar Genie Bestimmten einen moeglichst verkommenen, verlorenen Menschen zu machen. Alles Straeuben und Aufbaeumen hilft nichts; der Arme ist dem Untergange geweiht. Und selbst wenn es ihm gelaenge, aus Ardistan zu entkommen, so wuerde er doch in Maerdistan ergriffen und nach der Geisterschmiede geschleppt, um so lange gefoltert und gequaelt zu werden, bis er den letzten Rest von Mut verliert, zu widerstreben. Nur selten ist die Himmelskraft, die einer solchen nach Ardistan geschleuderten Seele mitgegeben wurde, so gross und so unerschoepflich, dass sie selbst die staerkste Pein der Geisterschmiede ertraegt und dem Schmiede und seinen Gesellen “aus dem Dunst von Russ und Hammerschlag ruhig dankbar froh entgegenlaechelt”. Einer solchen Himmelstochter kann selbst dieser groesste Schmerz nichts anhaben, sie ist gefeit; sie ist gerettet. Sie wird nicht vom Feuer vernichtet, sondern gelaeutert und gestaehlt. Und sind alle Schlacken von ihr abgesprungen, so hat der Schmied von ihr zu lassen, denn es ist nichts mehr an ihr, was nach Ardistan gehoert. Darum kann weder Mensch noch Teufel sie mehr hindern, unter dem Zorngeschrei des ganzen Tieflandes nach Dschinnistan emporzusteigen, wo jeder Mensch der Engel seines Naechsten ist. — — — _________ II. Meine Kindheit. _____ Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers. Mein Vater war ein armer Weber. Meine Grossvaeter waren beide toedlich verunglueckt. Der Vater meiner Mutter daheim, der Vater meines Vaters aber im Walde. Er war zu Weihnacht nach dem Nachbardorf gegangen, um Brot zu holen. Die Nacht ueberraschte ihn. Er kam im tiefen Schneegestoeber vom Wege ab und stuerzte in die damals steile Schlucht des “Kraehenholzes”, aus der er sich nicht herausarbeiten konnte. Seine Spuren wurden verweht. Man suchte lange Zeit vergeblich nach ihm. Erst als der Schnee verschwunden war, fand man seine Leiche und auch die Brote. Ueberhaupt ist Weihnacht fuer mich und die Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine verhaengnisvolle Zeit gewesen. Geboren wurde ich am 25. Februar 1842 in dem damals sehr aermlichen und kleinen, erzgebirgischen Weberstaedtchen Ernsttal, welches jetzt mit dem etwas groesseren Hohenstein verbunden ist. Wir waren neun Personen: mein Vater, meine Mutter, die beiden Grossmuetter, vier Schwestern und ich, der einzige Knabe. Die Mutter meiner Mutter scheuerte fuer die Leute und spann Watte. Es kam vor, dass sie sich mehr als 25 Pfennige pro Tag verdiente. Da wurde sie splendid und verteilte zwei Dreierbroetchen, die nur vier Pfennige kosteten, weil sie aeusserst hart und altbacken, oft auch schimmelig waren, unter uns fuenf Kinder. Sie war eine gute, fleissige, schweigsame Frau, die niemals klagte. Sie starb, wie man sagte, aus Altersschwaeche. Die eigentliche Ursache ihres Todes aber war wohl das, was man gegenwaertig diskret als “Unterernaehrung” zu bezeichnen pflegt. Ueber meine andere Grossmutter, die Mutter meines Vaters, habe ich etwas mehr zu sagen, doch nicht hier an dieser Stelle. Meine Mutter war eine Maertyrerin, eine Heilige, immer still, unendlich fleissig, trotz unserer eigenen Armut stets opferbereit fuer andere, vielleicht noch aermere Leute. Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus ihrem Mund gehoert. Sie war ein Segen fuer jeden, mit dem sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen fuer uns, ihre Kinder. Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch erfuhr davon. Doch des Abends, wenn sie, die Stricknadeln emsig ruehrend, beim kleinen, qualmenden Oellaempchen sass und sich unbeachtet waehnte, da kam es vor, dass ihr eine Traene in das Auge trat und, um schneller, als sie gekommen war, zu verschwinden, ihr ueber die Wange lief. Mit einer Bewegung der Fingerspitze wurde die Leidesspur sofort verwischt. Mein Vater war ein Mensch mit zwei Seelen. Die eine Seele unendlich weich, die andere tyrannisch, voll Uebermass im Zorn, unfaehig, sich zu beherrschen. Er besass hervorragende Talente, die aber alle unentwickelt geblieben waren, der grossen Armut wegen. Er hatte nie eine Schule besucht, doch aus eigenem Fleisse fliessend lesen und sehr gut schreiben gelernt. Er besass zu allem, was noetig war, ein angeborenes Geschick. Was seine Augen sahen, das machten seine Haende nach. Obgleich nur Weber, war er doch im stande, sich Rock und Hose selbst zu schneidern und seine Stiefel selbst zu besohlen. Er schnitzte und bildhauerte gern, und was er da fertig brachte, das hatte Schick und war gar nicht so uebel. Als ich eine Geige haben musste und er kein Geld auch zu dem Bogen hatte, fertigte er schnell selbst einen. Dem fehlte es zwar ein wenig an schoener Schweifung und Eleganz, aber er genuegte vollstaendig, seine Bestimmung zu erfuellen. Vater war gern fleissig, doch befand sich sein Fleiss stets in Eile. Wozu ein anderer Weber vierzehn Stunden brauchte, dazu brauchte er nur zehn; die uebrigen vier verwendete er dann zu Dingen, die ihm lieber waren. Waehrend dieser zehn angestrengten Stunden war nicht mit ihm auszukommen; alles hatte zu schweigen; niemand durfte sich regen. Da waren wir in steter Angst, ihn zu erzuernen. Dann wehe uns! Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen hinterliess, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte “birkene Hans”, vor dem wir Kinder uns besonders scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Zuechtigung im grossen “Ofentopfe” einzuweichen, um ihn elastischer und also eindringlicher zu machen. Uebrigens, wenn die zehn Stunden vorueber waren, so hatten wir nichts mehr zu befuerchten; wir atmeten alle auf, und Vaters andere Seele laechelte uns an. Er konnte dann geradezu herzgewinnend sein, doch hatten wir selbst in den heitersten und friedlichsten Augenblicken das Gefuehl, dass wir auf vulkanischem Boden standen und von Moment zu Moment einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man den Strick oder den “Hans” so lange, bis Vater nicht mehr konnte. Unsere aelteste Schwester, ein hochbegabtes, liebes, heiteres, fleissiges Maedchen, wurde sogar noch als Braut mit Ohrfeigen gezuechtigt, weil sie von einem Spaziergange mit ihrem Braeutigam etwas spaeter nach Hause kam, als ihr erlaubt worden war. Hier habe ich eine Pause zu machen, um mir eine ernste, wichtigere Bemerkung zu gestatten. Ich schreibe dieses Buch nicht etwa um meiner Gegner willen, etwa um ihnen zu antworten oder mich gegen sie zu verteidigen, sondern ich bin der Meinung, dass durch die Art und Weise, in der man mich umstuermt, jede Antwort und jede Verteidigung ausgeschlossen wird. Ich schreibe dieses Buch auch nicht fuer meine Freunde, denn die kennen, verstehen und begreifen mich, so dass ich nicht erst noetig habe, ihnen Aufklaerung ueber mich zu geben. Ich schreibe es vielmehr nur u m m e i n e r s e l b st w i l l e n, um ueber mich klar zu werden und mir ueber das, was ich bisher tat und ferner noch zu tun gedenke, Rechenschaft abzulegen. Ich schreibe also, um zu beichten. Aber ich beichte nicht etwa den Menschen, denen es ja auch gar nicht einfaellt, mir ihre Suenden einzugestehen, sondern ich beichte meinem Herrgott und mir selbst, und was diese beiden sagen, wenn ich geendet habe, wird fuer mich massgebend sein. Es sind fuer mich also nicht gewoehnliche, sondern heilige Stunden, in denen ich die vorliegenden Bogen schreibe. Ich spreche hier nicht nur fuer dieses, sondern auch fuer jenes Leben, an das ich glaube und nach dem ich mich sehne. Indem ich hier beichte, verleihe ich mir die Gestalt und das Wesen, als das ich einst nach dem Tode existieren werde. Da kann es mir wahrlich, wahrlich gleichgueltig sein, was man in diesem oder in jenem Lager zu diesem meinem Buche sagt. Ich lege es in ganz andere, in die richtigen Haende, naemlich in die Haende des Geschickes, der Alles wissenden Vorsehung, bei der es weder Gunst noch Ungunst, sondern nur allein Gerechtigkeit und Wahrheit gibt. Da laesst sich nichts verschweigen und nichts beschoenigen. Da muss man Alles ehrlich sagen und ehrlich bekennen, wie es war und wie es ist, erscheine es auch noch so pietaetlos und tue es auch noch so weh. Man hat den Ausdruck “Karl May-Problem” erfunden. Wohlan, ich nehme ihn an und lasse ihn gelten. Dieses Problem wird mir keiner von allen denen loesen, welche meine Buecher nicht gelesen oder nicht begriffen haben und trotzdem ueber sie urteilen. Das Karl May-Problem ist das Menschheitsproblem, aus dem grossen, alles umfassenden Plural in den Singular, in die einzelne Individualitaet transponiert. Und genauso, wie dieses Menschheitsproblem zu loesen ist, ist auch das Karl May-Problem zu loesen, anders nicht! Wer sich unfaehig zeigt, das Karl May-Raetsel in befriedigender, humaner Weise zu loesen, der mag um Gottes Willen die schwachen Haende und die unzureichenden Gedanken davon lassen, ueber sich selbst hinaus zu greifen und sich mit schwierigen Menschheitsfragen zu befassen! Der Schluessel zu all diesen Raetseln ist laengst vorhanden. Die christliche Kirche nennt ihn “Erbsuende”. Die Vorvaeter und Vormuetter kennen, heisst, die Kinder und Enkel begreifen, und nur der Humanitaet, der wahren edelmenschlichen Gesinnung ist es gegeben, in Betracht der Vorfahren wahr und ehrlich zu sein, um auch gegen die Nachkommen wahr und ehrlich sein zu koennen. Den Einfluss der Verstorbenen auf ihre Nachlebenden an das Tageslicht zu ziehen, ist rechts eine Seligkeit und links eine Erloesung fuer beide Teile, und so habe auch ich die meinen genauso zu zeichnen, wie sie in Wirklichkeit waren, mag man dies fuer unkindlich halten oder nicht. Ich habe nicht nur gegen sie und mich, sondern auch gegen meine Mitmenschen wahr zu sein. Vielleicht kann mancher aus unserem Beispiele lernen, in seinem Falle das Richtige zu tun. — — Mutter hatte ganz unerwartet von einem entfernten Verwandten ein Haus geerbt und einige kleine, leinene Geldbeutel dazu. Einer dieser Geldbeutel enthielt lauter Zweipfenniger, ein anderer lauter Dreipfenniger, ein dritter lauter Groschen. In einem vierten steckte ein ganzes Schock Fuenfzigpfenniger, und im fuenften und letzten fanden sich zehn alte Schafhaeuselsechser, zehn Achtgroschenstuecke, fuenf Gulden und vier Taler vor. Das war ja ein Vermoegen! Das erschien der Armut fast wie eine Million! Freilich war das Haus nur drei schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut, dafuer aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben unter dem First einen Taubenschlag, was bei andern Haeusern bekanntlich nicht immer der Fall zu sein pflegt. Grossmutter, die Mutter meines Vaters, zog in das Parterre, wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und die Haustuer gab. Dahinter lag ein Raum mit einer alten Waescherolle, die fuer zwei Pfennige pro Stunde an andere Leute vermietet wurde. Es gab glueckliche Sonnabende, an denen diese Rolle zehn, zwoelf, ja sogar vierzehn Pfennige einbrachte. Das foerderte die Wohlhabenheit ganz bedeutend. Im ersten Stock wohnten die Eltern mit uns. Da stand der Webstuhl mit dem Spulrad. Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie von Maeusen und einigen groesseren Nagetieren, die eigentlich im Taubenschlage wohnten und des Nachts nur kamen, uns zu besuchen. Es gab auch einen Keller, doch war er immer leer. Einmal standen einige Saecke Kartoffeln darin, die gehoerten aber nicht uns, sondern einem Nachbar, der keinen Keller hatte. Grossmutter meinte, dass es viel besser waere, wenn der Keller ihm und die Kartoffeln uns gehoerten. Der Hof war grad so gross, dass wir fuenf Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu stossen. Hieran grenzte der Garten, in dem es einen Holunderstrauch, einen Apfel-, einen Pflaumenbaum und einen Wassertuempel gab, den wir als “Teich” bezeichneten. Der Hollunder lieferte uns den Tee zum Schwitzen, wenn wir uns erkaeltet hatten, hielt aber nicht sehr lange vor, denn wenn das Eine sich erkaeltete, fingen auch alle Andern an, zu husten und wollten mit ihm schwitzen. Der Apfelbaum bluehte immer sehr schoen und sehr reichlich; da wir aber nur zu wohl wussten, dass die Aepfel gleich nach der Bluete am besten schmecken, so war er meist schon Anfang Juni abgeerntet. Die Pflaumen aber waren uns heilig. Grossmutter ass sie gar zu gern. Sie wurden taeglich gezaehlt, und niemand wagte es, sich an ihnen zu vergreifen. Wir Kinder bekamen doch mehr, viel mehr davon, als uns eigentlich zustand. Was den “Teich” betrifft, so war er sehr reich belebt, doch leider nicht mit Fischen, sondern mit Froeschen. Die kannten wir alle einzeln, sogar an der Stimme. Es waren immer so zwischen zehn und fuenfzehn. Wir fuetterten sie mit Regenwuermern, Fliegen, Kaefern und allerlei andern guten Dingen, die wir aus gastronomischen oder aesthetischen Gruenden nicht selbst geniessen konnten, und sie waren uns auch herzlich dankbar dafuer. Sie kannten uns. Sie kamen an das Ufer, wenn wir uns ihnen naeherten. Einige liessen sich sogar ergreifen und streicheln. Der eigentliche Dank aber erklang uns des Abends, wenn wir am Einschlafen waren. Keine Sennerin kann sich mehr ueber ihre Zither freuen als wir ueber unsere Froesche. Wir wussten ganz genau, welcher es war, der sich hoeren less [sic], ob der Arthur, der Paul oder Fritz, und wenn sie gar zu duettieren oder im Chor zu singen begannen, so sprangen wir aus den Federn und oeffneten die Fenster, um mitzuquaken, bis Mutter oder Grossmutter kam und uns dahin zurueckbrachte, wohin wir jetzt gehoerten. Leider aber kam einst ein sogenannter Bezirksarzt in das Staedtchen, um sogenannte gesundheitliche Untersuchungen anzustellen. Der hatte ueberall etwas auszusetzen. Dieser ebenso sonderbare wie gefuehllose Mann schlug, als er unsern Garten und unsern schoenen Tuempel sah, die Haende ueber dem Kopf zusammen und erklaerte, dass dieser Pest- und Cholerapfuhl sofort verschwinden muesse. Am naechsten Tage brachte der Polizist Eberhard einen Zettel des Herrn Stadtrichters Layritz des Inhaltes, dass binnen jetzt und drei Tagen der Tuempel auszufuellen und die Froschkolonie zu toeten sei, bei fuenfzehn “Guten Groschen” Strafe. Wir Kinder waren empoert. Unsere Froesche umbringen! Ja, wenn der Herr Stadtrichter Layritz einer gewesen waere, dann herzlich, herzlich gern! Wir hielten Rat und was wir beschlossen, wurde ausgefuehrt. Der Tuempel wurde so weit ausgeschoepft, dass wir die Froesche fassen konnten. Sie wurden in den grossen Deckelkorb getan und dann hinaus hinter das Schiesshaus nach dem grossen Zechenteich getragen, Grossmutter voran, wir hinterher. Dort wurde jeder einzeln herausgenommen, geliebkost, gestreichelt und in das Wasser gelassen. Wieviel Seufzer dabei laut geworden, wieviel Traenen dabei geflossen und wieviel vernichtende Urteile dabei gegen den sogenannten Bezirksarzt gefaellt worden sind, das ist jetzt, nach ueber sechzig Jahren, wohl kaum mehr festzustellen. Doch weiss ich noch ganz bestimmt, dass Grossmutter, um dem ungeheuern Schmerz ein Ende zu machen, uns die Versicherung gab, ein jedes von uns werde genau nach zehn Jahren ein dreimal groesseres Haus mit einem fuenfmal groesseren Garten erben, in dem es einen zehnmal groesseren Teich mit zwanzigmal groesseren Froeschen gebe. Das brachte in unserer Stimmung eine ebenso ploetzliche wie angenehme Aenderung hervor. Wir wanderten mit der Grossmutter und dem leeren Deckelkorb vergnuegt nach Hause. Das geschah in der Zeit, als ich nicht mehr blind war und schon laufen konnte. Ich war weder blind geboren noch mit irgendeinem vererbten koerperlichen Fehler behaftet. Vater und Mutter waren durchaus kraeftige, gesunde Naturen. Sie sind bis zu ihrem Tode niemals krank gewesen. Mich atavistischer Schwachheiten zu zeihen, ist eine Boeswilligkeit, die ich mir unbedingt verbitten muss. Dass ich kurz nach der Geburt sehr schwer erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre siechte, war nicht eine Folge der Vererbung, sondern der rein oertlichen Verhaeltnisse, der Armut, des Unverstandes und der verderblichen Medikasterei, der ich zum Opfer fiel. Sobald ich in die Hand eines tuechtigen Arztes kam, kehrte mir das Augenlicht wieder, und ich wurde ein hoechst kraeftiger und widerstandsfaehiger Junge, der stark genug war, es mit jedem andern aufzunehmen. Doch ehe ich ueber mich selbst berichte, habe ich noch fuer einige Zeit bei dem Milieu zu bleiben, in dem ich meine erste Kindheit verlebte. Mutter hatte mit dem Hause auch die auf ihm stehenden Schulden geerbt. Die waren zu verzinsen. Hieraus ergab sich, dass wir eben nur mietfrei wohnten, und auch das nicht einmal ganz. Mutter war sparsam, Vater in seiner Weise auch. Aber wie er in allem masslos war, in seiner Liebe, seinem Zorne, seinem Fleisse, seinem Lobe, seinem Tadel, so auch hier in der Beurteilung der kleinen Erbschaft, die nur ein Ansporn sein konnte, weiter zu sparen und das Haeuschen von Schulden frei zu machen. Aber wenn er auch nicht geradezu glaubte, ploetzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch an, jetzt zu einer andern Lebensfuehrung uebergehen zu duerfen. Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben lang hinter dem Webstuhl abzurackern. Er hatte ja nun ein Haus, und er hatte Geld, viel Geld. Er konnte zu etwas anderem, besserem greifen, was bequemer war und mehr lohnte als die Weberei. Waehrend er, nicht schlafen koennend, im Bette lag und darueber nachdachte, was zu ergreifen sei, hoerte er die Ratten ueber sich im leeren Taubenschlag rumoren. Dieses Rumoren wiederholte sich von Tag zu Tag, und so entstand, in der jedem Psychologen wohlbekannten Weise in ihm der Entschluss, die Ratten zu vertreiben und Tauben anzuschaffen. Er wollte Taubenhaendler werden, obgleich er von diesem Fache nicht das geringste verstand. Er hatte gehoert, dass da sehr viel Geld zu verdienen sei, und war der Meinung, dass er auch ohne die noetigen Sonderkenntnisse genug Intelligenz besitze, jeden Haendler zu ueberlisten. Die Ratten wurden vertrieben und Tauben angeschafft. Leider war diese Anschaffung nicht ohne Geldkosten zu bewerkstelligen. Mutter musste einen ihrer Beutel opfern, vielleicht gar zwei. Sie tat es nur mit Widerstreben. Sie fand an den Tauben nicht dasselbe Wohlgefallen, welches wir Kinder an ihnen fanden. Am meisten Vergnuegen machte es uns, wenn wir beobachteten, wie die lieben Tierchen ihre zarten Kleider veraenderten. Vater hatte zwei Paar sehr teure “Blaustriche” gekauft. Er brachte sie heim und zeigte sie uns. Er hoffte, wenigstens drei Taler an ihnen zu verdienen. Einige Tage spaeter lagen die blauen Federn am Boden: sie waren nicht echt, sondern nur angeklebt gewesen. Die kostbaren “Blaustriche” entpuppten sich als ganz wertlose Feldweisslinge. Vater erwarb einen sehr schoenen, jungen, grauen Trommeltaeuberich fuer einen Taler fuenfzehn gute Groschen. Nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass der Taeuberich altersblind war. Er ging nicht aus dem Schlage; sein Wert war gleich Null. Solche und aehnliche Faelle mehrten sich. Die Folge davon war, dass Mutter noch einen dritten Beutel opfern musste, um den Taubenhandel in besseren Schwung zu bringen. Freilich gab sich auch Vater grosse Muehe. Er feierte nicht. Er besuchte alle Markte, alle Gasthoefe und Schankwirtschaften, um zu kaufen oder Kaeufer zu finden. Bald kaufte er Erbsen; bald kaufte er Wicken, die er “halb geschenkt” erhalten hatte. Er war immer unterwegs, von einem Dorf zum andern, von einem Bauern zum andern. Er brachte immerfort Kaese, Eier und Butter heim, die wir gar nicht brauchten. Er hatte sie teuer gekauft, um sich die Bauersfrauen handelsgeneigt zu machen, und wurde sie nur mit Muehe und Verlusten wieder los. Dieses unstaete [sic], unnuetzliche Leben foerderte nicht, sondern frass das Glueck des Hauses; es frass sogar auch noch die uebrigen Leinenbeutel. Mutter gab gute Worte, vergeblich. Sie haermte sich und hielt still, bis es Suende gewesen waere, weiter zu tragen. Da fasste sie einen Entschluss und ging zum Herrn Stadtrichter Layritz, der sich in diesem Falle viel, viel vernuenftiger als damals gegen unsere Froesche zeigte. Sie stellte ihm ihre Lage vor. Sie sagte ihm, dass sie zwar ihren Mann sehr, sehr lieb habe, aber vor allen Dingen auch auf das Wohl ihrer Kinder achten muesse. Sie verriet ihm, dass sie ausser den bisher erwaehnten Beuteln noch einen besitze, den sie ihrem Manne noch nicht gezeigt, sondern verheimlicht habe. Der Herr Stadtrichter solle doch die Guete haben, ihr zu sagen, wie sie dieses Geld anlegen koenne, um sich und ihre Kinder zu sichern. Sie legte ihm den Beutel vor. Er oeffnete ihn und zaehlte. Es waren sechzig harte, blanke, wohlgeputzte Taler. Darob grosses Erstaunen! Der Herr Stadtrichter Layritz dachte nach; dann sagte er: “Meine liebe Frau May, ich kenne Sie. Sie sind eine brave Frau, und ich stehe fuer Sie ein. Unsere Hebamme ist alt; wir brauchen eine juengere. Sie gehen nach Dresden und werden fuer dieses Ihr Geld Hebamme. Ich werde das besorgen! Kommen Sie mit der ersten Zensur zurueck, so stellen wir Sie sofort an. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Kommen Sie aber mit einer niedrigeren Zensur, so koennen wir Sie nicht brauchen. Jetzt aber gehen Sie heim, und sagen Sie Ihrem Mann, er solle sofort einmal zu mir kommen; ich haette mit ihm zu reden!” Das geschah. Mutter ging nach Dresden. Sie kam mit der ersten Zensur zurueck, und der Herr Stadtrichter Layritz hielt Wort; sie wurde angestellt. Waehrend ihrer Abwesenheit fuehrte Vater mit Grossmutter das Haus. Das war eine schwere Zeit, eine Leidenszeit fuer uns alle. Die Blattern brachen aus. Wir Kinder lagen alle krank. Grossmutter tat fast ueber Menschenkraft. Vater aber auch. Bei einer der Schwestern hatte sich der Blatternkranke Kopf in einen unfoermigen Klumpen verwandelt. Stirn, Ohren, Augen, Nase, Mund und Kinn waren vollstaendig verschwunden. Der Arzt musste durch Messerschnitte nach den Lippen suchen, um der Kranken wenigstens ein wenig Milch einfloessen zu koennen. Sie lebt heute noch, ist die heiterste von uns allen und niemals wieder krank gewesen. Man sieht noch jetzt die Narben, die ihr der Arzt geschnitten hat, als er nach dem Mund suchte. Diese schwere Zeit war, als Mutter wieder kam, noch nicht ganz vorueber, mir aber brachte ihr Aufenthalt in Dresden grosses Glueck. Sie hatte sich durch ihren Fleiss und ihr stilles, tiefernstes Wesen das Wohlwollen der beiden Professoren Grenzer und Haase erworben und ihnen von mir, ihrem elenden, erblindeten und seelisch doch so regsamen Knaben erzaehlt. Sie war aufgefordert worden, mich nach Dresden zu bringen, um von den beiden Herren behandelt zu werden. Das geschah nun jetzt, und zwar mit ganz ueberraschendem Erfolge. Ich lernte sehen und kehrte, auch im uebrigen gesundend, heim. Aber das Alles hatte grosse, grosse Opfer gefordert, freilich nur fuer unsere armen Verhaeltnisse gross. Wir mussten um all der noetigen Ausgaben willen das Haus verkaufen, und das wenige, was von dem Kaufpreise unser war, reichte kaum zu, das Noetigste zu decken. Wir zogen zur Miete. — — Und nun zu der Person, die in seelischer Beziehung den tiefsten und groessten Einfluss auf meine Entwicklung ausgeuebt hat. Waehrend die Mutter unserer Mutter in Hohenstein geboren war und darum von uns die “Hohensteiner Grossmutter” genannt wurde, stammte die Mutter meines Vaters aus Ernsttal und musste sich darum als “Ernsttaler Grossmutter” bezeichnen lassen. Diese Letztere war ein ganz eigenartiges, tiefgruendiges, edles und, fast moechte ich sagen, geheimnisvolles Wesen. Sie war mir von Jugend auf ein herzliebes, beglueckendes Raetsel, aus dessen Tiefen ich schoepfen durfte, ohne es jemals ausschoepfen zu koennen. Woher hatte sie das Alles? Sehr einfach: Sie war Seele, nichts als Seele, und die heutige Psychologie weiss, was das zu bedeuten hat. Sie war in der tiefsten Not geboren und im tiefsten Leide aufgewachsen; darum sah sie Alles mit hoffenden, sich nach Erloesung sehnenden Augen an. Und wer in der richtigen Weise zu hoffen und zu glauben vermag, der hat den Erdenjammer hinter sich geschoben und vor sich nur noch Sonnenschein und Gottesfrieden liegen. Sie war die Tochter bitter armer Leute, hatte die Mutter frueh verloren und einen Vater zu ernaehren, der weder stehen noch liegen konnte und bis zu seinem Tode viele Jahre lang an einen alten, ledernen Lehnstuhl gefesselt und gebunden war. Sie pflegte ihn mit unendlicher, zu Traenen ruehrender Aufopferung. Die Armut erlaubte ihr nur das billigste Wohnen. Das Fenster ihrer Stube zeigte nur den Gottesacker, weiter nichts. Sie kannte alle Graeber, und sie bedachte fuer sich und ihren Vater nur den einen Weg, aus ihrer duerftigen Sterbekammer im Sarge nach dem Kirchhofe hinueber. Sie hatte einen Geliebten, der es brav und ehrlich mit ihr meinte; aber sie verzichtete. Sie wollte nur ganz allein dem Vater gehoeren, und der brave Bursche gab ihr Recht. Er sagte nichts, aber er wartete und blieb ihr treu. Droben auf dem Oberboden stand eine alte Kiste mit noch aelteren Buechern. Das waren in Leder gebundene Erbstuecke verschiedenen Inhaltes, sowohl geistlich als auch weltlich. Es ging die Sage, dass es in der Familie, als sie noch wohlhabend war, Geistliche, Gelehrte und weitgereiste Herren gegeben habe, an welche diese Buecher noch heut erinnerten. Vater und Tochter konnten lesen; sie hatten es beide von selbst gelernt. Des Abends, nach des Tages Last und Arbeit, wurde das Reifroeckchen *) _______ *) Kleines Oellaempchen. angebrannt, und eines von Beiden las vor. In den Pausen wurde das Gelesene besprochen. Man hatte die Buecher nahe schon zwanzigmal durch, fing aber immer wieder von vorn an, weil sich dann immer neue Gedanken fanden, die besser, schoener und auch richtiger zu sein schienen als die frueheren. Am meisten gelesen wurde ein ziemlich grosser und schon sehr abgegriffener Band, dessen Titel lautete: Der Hakawati d.i. der Maerchenerzaehler in Asia, Africa, Turkia, Arabia, Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung, explanatio und interpretatio auch viele Vergleychung und Figuerlich seyn von Christianus Kretzschmann der aus Germania war. Gedruckt von Wilhelmus Candidus A. D: M. D. C. V. * * * Dieses Buch enthielt eine Menge bedeutungsvoller orientalischer Maerchen, die sich bisher in keiner andern Maerchensammlung befanden. Grossmutter kannte diese Maerchen alle. Sie erzaehlte sie gewoehnlich woertlich gleichlautend; aber in gewissen Faellen, in denen sie es fuer noetig hielt, gab sie Aenderungen und Anwendungen, aus denen zu ersehen war, dass sie den Geist dessen, was sie erzaehlte, sehr wohl kannte und ihn genau wirken liess. Ihr Lieblingsmaerchen war das Maerchen von Sitara; es wurde spaeter auch das meinige, weil es die Geographie und Ethnologie unserer Erde und ihrer Bewohner rein ethisch behandelt. Doch dies hier nur, um anzudeuten. Der Vater starb infolge einer Reihe von Blutstuerzen. Die Pflege war so anstrengend, dass auch die Tochter dem Tode nahe kam, doch ueberstand sie es. Nach verflossener Trauerzeit kam May, der treue Geliebte, und fuehrte sie heim. Nun endlich, endlich wirklich gluecklich! Es war eine Ehe, wie Gott sie will. Zwei Kinder wurden geboren, mein Vater und vor ihm eine Schwester, welche spaeter einen schweren Fall tat und an den Folgen desselben verkrueppelte. Man sieht, dass es an Heimsuchungen, oder sagen wir Pruefungen, bei uns nicht fehlte. Und ebenso sieht man, dass ich nichts verschweige. Es darf nicht meine Absicht sein, das Haessliche schoen zu malen. Aber kurz nach der Geburt des zweiten Kindes trat jenes unglueckliche Weihnachtsereignis ein, welches ich bereits erzaehlte. Der brave junge Mann stuerzte des Nachts mit den Broten in die tiefe Schneeschlucht und erfror. Grossmutter hatte mit ihren beiden Kindern an den Christtagen nichts zu essen und erfuhr erst nach langer Zeit der Qual, dass und in welch schrecklicher Weise sie den geliebten Mann verloren hatte. Hierauf kamen Jahre der Trauer und dann die schwere Zeit der napoleonischen Kriege und der Hungersnot. Es war Alles verwuestet. Es gab nirgends Arbeit. Die Teuerung wuchs; der Hunger wuetete. Ein armer Handwerksbursche kam, um zu betteln. Grossmutter konnte ihm nichts geben. Sie hatte fuer sich und ihre Kinder selbst keinen einzigen Bissen Brot. Er sah ihr stilles Weinen. Das erbarmte ihn. Er ging fort und kam nach ueber einer Stunde wieder. Er schuettete vor ihr aus, was er bekommen hatte, Stuecke Brot, ein Dutzend Kartoffeln, eine Kohlruebe, einen kleinen, sehr ehrwuerdigen Kaese, eine Duete [sic] Mehl, eine Duete [sic] Graupen, ein Scheibchen Wurst und ein winziges Eckchen Hammeltalg. Dann ging er schnell fort, um sich ihrem Dank zu entziehen. Sie hat ihn nie wieder gesehen; Einer aber kennt ihn gewiss und wird es ihm nicht vergessen. Dieser Eine schickte auch noch andere, bessere Hilfe. Einem abseits wohnenden Oberfoerster, den man als ebenso wohlhabend, wie edeldenkend kannte, war die Frau gestorben. Sie hatte ihm eine sehr reichliche Anzahl Kinder hinterlassen. Er wuenschte Grossmutter zur Fuehrung seiner Wirtschaft zu haben. Sie haette in dieser Zeit der Not nur zu gern eingewilligt, erklaerte aber, sich von ihren eigenen Kindern unmoeglich trennen zu koennen, selbst wenn sie einen Platz, sie unterzubringen, haette. Der brave Mann besann sich nicht lange. Er erklaerte ihr, es sei ihm gleich, ob sechs oder acht Kinder bei ihm aessen; sie wuerden alle satt. Sie solle nur kommen, doch nicht ohne sie, sondern mit ihnen. Das war Rettung in der hoechsten Not! Der Aufenthalt in dem stillen, einsamen Forsthause tat der Mutter und den Kindern wohl. Sie gesundeten und erstarkten in der besseren Ernaehrung. Der Oberfoerster sah, wie Grossmutter sich abmuehte, ihm dankbar zu sein und seine Zufriedenheit zu erringen. Sie arbeitete fast ueber ihre Kraft, fuehlte sich aber wohl dabei. Er beobachtete das im Stillen und belohnte sie dadurch, dass er ihren Kindern in jeder Beziehung dasselbe gewaehrte, was die seinen bekamen. Freilich war er Aristokrat und eigentlich stolz. Er ass mit seiner Schwiegermutter allein. Grossmutter war nur Dienstbote, doch ass sie nicht in der Gesinde- sondern mit in der Kinderstube. Als er aber nach laengerer Zeit einen Einblick in ihr eigenartiges Seelenleben erhielt, nahm er sich ihrer auch in innerer Beziehung an. Er erleichterte ihr die grosse Arbeitslast, erlaubte ihr, ihm und seiner Schwiegermutter des Abends aus ihren Buechern vorzulesen, und gestattete ihr, dann auch in seine eigenen Buecher zu schauen. Wie gern sie das tat! Und er hatte so gute, so nuetzliche Buecher! Den Kindern wurde in vernuenftiger Weise Freiheit gewaehrt. Sie tollten im Walde herum und holten sich kraeftige Glieder und rote Wangen. Der kleine May war der juengste und kleinste von allen, aber er tat wacker mit. Und er passte auf; er lernte und merkte. Er wollte Alles wissen. Er frug nach jedem Gegenstand, den er noch nicht kannte. Bald wusste er die Namen aller Pflanzen, aller Raupen und Wuermer, aller Kaefer und Schmetterlinge, die es in seinem Bereiche gab. Er trachtete, ihren Charakter, ihre Eigenschaften und Gewohnheiten kennen zu lernen. Diese Wissbegierde erwarb ihm die besondere Zuneigung des Oberfoersters, der sich sogar herbeiliess, den Jungen mit sich gehen zu lassen. Ich muss das erwaehnen, um Spaeteres erklaerlich zu machen. Der nachherige Rueckfall aus dieser sonnenklaren, hoffnungsreichen Jugendzeit in die fruehere Not und Erbaermlichkeit konnte auf den Knaben doch nicht gluecklich wirken. In dieser Zeit war es, dass Grossmutter waehrend des Mittagessens ploetzlich vom Stuhle fiel und tot zu Boden sank. Das ganze Haus geriet in Aufregung. Der Arzt wurde geholt. Er konstatierte Herzschlag; Grossmutter sei tot und nach drei Tagen zu begraben. Aber sie lebte. Doch konnte sie kein Glied bewegen, nicht einmal die Lippen oder die nicht ganz geschlossenen Augenlider. Sie sah und hoerte alles, das Weinen, das Jammern um sie. Sie verstand jedes Wort, welches gesprochen wurde. Sie sah und hoerte den Tischler, welcher kam, um ihr den Sarg anzumessen. Als er fertig war, wurde sie hineingelegt und in eine kalte Kammer gestellt. Am Begraebnistage bahrte man sie im Hausflur auf. Die Leichentraeger kamen, der Pfarrer und der Kantor mit der Kurrende. Die Familie begann, Abschied von der Scheintoten zu nehmen. Man denke sich deren Qual! Drei Tage und drei Naechte lang hatte sie sich alle moegliche Muehe gegeben, durch irgendeine Bewegung zu zeigen, dass sie noch lebe — — vergeblich! Jetzt kam der letzte Augenblick, an dem noch Rettung moeglich war. Hatte man den Sarg einmal geschlossen, so gab es keine Hoffnung mehr. Sie erzaehlte spaeter, dass sie sich in ihrer fuerchterlichen Todesangst ganz unmenschliche Muehe gegeben habe, doch wenigstens mit dem Finger zu wackeln, als einer um den andern kam, um ihre Hand zum letzten Male zu ergreifen. So tat auch das juengste Maedchen des Oberfoersters, welches besonders sehr an Grossmutter gehangen hatte. Da schrie das Kind erschrocken aus: “Sie hat meine Hand angegriffen; sie will mich festhalten!” Und richtig, man sah, dass die scheinbar Verstorbene ihre Hand in langsamer Bewegung abwechselnd oeffnete und schloss. Von einem Begraebnisse konnte nun selbstverstaendlich nicht mehr die Rede sein. Es wurden andere Aerzte geholt; Grossmutter war gerettet. Aber von da an war ihre Lebensfuehrung noch ernster und erhobener als vorher. Sie sprach nur selten von dem, was sie in jenen unvergesslichen drei Tagen auf der Schwelle zwischen Tod und Leben gedacht und empfunden hatte. Es muss schrecklich gewesen sein. Aber auch hierdurch ist ihr Glaube an Gott nur noch fester und ihr Vertrauen zu ihm nur noch tiefer geworden. Wie sie nur scheintot gewesen war, so hielt sie von nun an auch den sogenannten wirklichen Tod nur fuer Schein und suchte jahrelang nach dem richtigen Gedanken, dies zu erklaeren und zu beweisen. Ihr und diesem ihrem Scheintode habe ich es zu verdanken, dass ich ueberhaupt nur an das Leben glaube, nicht aber an den Tod. Dieses Ereignis war innerlich noch nicht ganz ueberwunden, als Grossmutter infolge der Versetzung und Wiederverheiratung des Oberfoersters mit ihren beiden Kindern in ihre frueheren Verhaeltnisse zurueckgestossen wurde. Sie kehrte nach Ernsttal zurueck und hatte nun wieder jeden Pfennig direkt zu verdienen, den sie brauchte. Ein braver Mann, der Vogel hiess und auch Weber war, hielt um ihre Hand an. Jedermann redete ihr zu, sie muesse ihren Kindern doch einen Vater geben; das sei sie ihnen schuldig. Sie tat es und hatte es nicht zu bereuen; war aber leider schon nach kurzer Zeit wieder Witwe. Er starb und hinterliess ihr alles, was er besessen hatte, die Armut und den Ruf eines braven, fleissigen Mannes. Hierauf wurde es still und stiller um sie. Sie tat ihr Maedchen zu einer Naehterin und ihren Knaben zu einem Weber, der ihn von frueh bis abends am Spulrad beschaeftigte. Denn dass der Junge nun weiter nichts als nur ein Weber zu werden hatte, das verstand sich ganz von selbst. Die Lust dazu war ihm freilich waehrend seines Aufenthaltes im Forsthause vollstaendig vergangen; er hatte sich schon ganz anderes gedacht, und es ist gewiss erklaerlich, dass er spaeter, nachdem er in dieses ungeliebte Handwerk hineingezwungen worden war, auf die Idee kam, sich durch den Taubenhandel wieder daraus zu befreien. Doch tat er sowohl als Knabe wie auch als Juengling seine Pflicht. Er war fleissig und wurde ein tuechtiger Weber, dessen Ware so viel Sauberkeit und Akkuratesse zeigte, dass jeder Unternehmer ihn gern fuer sich arbeiten liess. In seinen Freistunden aber strich er durch Feld und Flur, um zu botanisieren und alle die Kenntnisse festzuhalten, die er sich bei dem Oberfoerster erworben hatte Darum machte es ihm grosse Freude, dass sich unter der oben erwaehnten Erbschaft unserer Mutter auch einige alte, hochinteressante Buecher befanden, deren Inhalt ihm bei diesen seinen Freibeschaeftigungen von grossem Nutzen war. Ich denke da besonders an einen grossen, starken Folioband, der gegen tausend Seiten zaehlte und folgenden Titel hatte: Kraeutterbuch Dess hochgelehrten vnnd weltberuehmten Herrn Dr. Petri Andreae Matthioli. Jetzt widerumb mit vielen schoenen newen Figuren / auch nuetzlichen Artzeneyen / vnnd andern guten Stuecken / zum dritten Mal auss sondern Fleiss gemehret vnnd verferdigt / Durch Joachimum Camerarium, der loeblichen Reichsstatt Nuernberg Medicum, Doct. Sampt dreien wohlgeordneten nuetzlichen Registern der Kraeutter lateinische und deutsche Namen / vund dann die Artzeneyen / dazu dieselbigen zugebrauchen jnnhaltendt. Beneben genugsamen Bericht / von den Destillier vund Brennoefen. Mit besonderem Roem. Kais. Majest. Priviligio, in keinerley Format nachzudrucken. Gedruckt zu Franckfurt am Mayn M. D. C. * * * Es verstand sich ganz von selbst, dass Vater dieses Buch sofort hernahm und fleissig durchstudierte. Es enthielt sogar mehr, als der Titel versprach. So waren die Namen der Pflanzen oft auch franzoesisch, englisch, russisch, boehmisch, italienisch und sogar arabisch angegeben, was spaeter besonders mir ganz ausserordentlich vorwaerts half. Auch Vater ging von Seite zu Seite dieses koestlichen Buchs, von Pflanze zu Pflanze. Er lernte viel, viel mehr zu dem, was er bereits wusste. Nicht nur die Kenntnis der Gewaechse an sich, sondern auch ihrer ernaehrenden und technischen Eigenschaften und ihrer Heilwirkungen. Die Vorfahren hatten diese Wirkungen geprueft und den Band mit sehr vielen Randbemerkungen versehen, welche sagten, wie diese Pruefungen ausgefallen waren. Dieses Buch wurde mir spaeter eine Quelle der reinsten, nuetzlichsten Freuden, und ich kann wohl sagen, dass Vater mich dabei vortrefflich unterstuetzte. Ein anderes dieser Buecher war eine Sammlung biblischer Holzschnitte, wahrscheinlich aus der ersten Zeit der xylographierenden Kunst. Ich besitze es, ganz ebenso wie das Kraeuterbuch, noch heut. Es enthaelt sehr viele und ganz vortreffliche Bilder; einige fehlen leider. Das erste ist Moses und das letzte ist das Tier aus dem elften Kapitel der Offenbarung Johannis. Das Titelblatt ist nicht mehr vorhanden. Darum weiss ich nicht, wer der Verfasser ist und aus welchem Jahre das Werk stammt. Es war Grossmutters Hilfsbuch, wenn sie uns die biblischen Geschichten erzaehlte. Jede dieser Erzaehlungen war fuer uns ein Hochgenuss, und damit komme ich auf den groessten Vorzug, den Grossmutter fuer uns Kinder hatte, naemlich auf ihre unvergleichliche Gabe, zu erzaehlen. Grossmutter erzaehlte eigentlich nicht, sondern sie schuf; sie zeichnete; sie malte; sie formte. Jeder, auch der widerstrebendste Stoff gewann Gestalt und Kolorit auf ihren Lippen. Und wenn zwanzig ihr zuhoerten, so hatte jeder einzelne von den zwanzig den Eindruck, dass sie das, was sie erzaehlte, ganz nur fuer ihn allein erzaehlte. Und das haftete; das blieb. Mochte sie aus der Bibel oder aus ihrer reichen Maerchenwelt berichten, stets ergab sich am Schluss der innige Zusammenhang zwischen Himmel und Erde, der Sieg des Guten ueber das Boese und die Mahnung, dass Alles auf Erden nur ein Gleichnis sei, weil der Ursprung aller Wahrheit nicht im niedrigen sondern nur im hoeheren Leben liege. Ich bin ueberzeugt, dass sie das nicht bewusst und in klarer Absicht tat; dazu war sie nicht unterrichtet genug, sondern es war angeborene Gabe, war Genius, und der erreicht bekanntlich das, was er will, am sichersten, wenn man ihn weder kennt noch beobachtet. Grossmutter war eine arme, ungebildete Frau, aber trotzdem eine Dichterin von Gottes Gnaden und darum eine Maerchenerzaehlerin, die aus der Fuelle dessen, was sie erzaehlte, Gestalten schuf, die nicht nur im Maerchen, sondern auch in Wahrheit lebten. In meiner Erinnerung tritt zuerst nicht das Maerchen von Sitara, sondern das Maerchen “von der verloren gegangenen und vergessenen Menschenseele” auf. Sie tat mir so unendlich leid, diese Seele. Ich habe mit meinen blinden, lichtlosen Kindesaugen um sie geweint. Fuer mich enthielt diese Erzaehlung die volle Wahrheit. Aber erst nach Jahren, als ich das Leben kennengelernt und mich mit dem Innern des Menschen eingehend beschaeftigt hatte, erkannte ich, dass die Kenntnis der Menschenseele in Wirklichkeit verloren und vergessen wurde und dass alle unsere Psychologie bisher nicht imstande war, uns diese Kenntnis zurueckzubringen. Ich habe in meiner Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und in die Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt, um nachzudenken, wohin die Verlorene und Vergessene gekommen sei. Ich wollte und wollte sie finden. Da nahm Grossmutter mich auf ihren Schoss, kuesste mich auf die Stirn und sagte: “Sei still, mein Junge! Graeme dich nicht um sie! Ich habe sie gefunden. Sie ist da!” “Wo?” fragte ich. “Hier, bei mir”, antwortete sie. “Du bist diese Seele, du!” “Aber ich bin doch nicht verloren,” warf ich ein. “Natuerlich bist du verloren. Man hat dich herabgeworfen in das aermste, schmutzigste Ardistan. Aber man wird dich finden; denn wenn alle, alle dich vergessen haben, Gott hat dich nicht vergessen.” — Ich begriff das damals nicht; ich verstand es erst spaeter, viel, viel spaeter. Eigentlich war in dieser meiner fruehen Knabenzeit jedes lebendige Wesen nur Seele, nichts als Seele. Ich sah nichts. Es gab fuer mich weder Gestalten noch Formen, noch Farben, weder Orte noch Ortsveraenderungen. Ich konnte die Personen und Gegenstaende wohl fuehlen, hoeren, auch riechen; aber das genuegte nicht, sie mir wahr und plastisch darzustellen. Ich konnte sie mir nur denken. Wie ein Mensch, ein Hund, ein Tisch aussieht, das wusste ich nicht; ich konnte mir nur innerlich ein Bild davon machen, und dieses Bild war seelisch. Wenn jemand sprach, hoerte ich nicht seinen Koerper, sondern seine Seele. Nicht sein Aeusseres, sondern sein Inneres trat mir naeher. Es gab fuer mich nur Seelen, nichts als Seelen. Und so ist es geblieben, auch als ich sehen gelernt hatte, von Jugend an bis auf den heutigen Tag. Das ist der Unterschied zwischen mir und anderen. Das ist der Schluessel zu meinen Buechern. Das ist die Erklaerung zu allem, was man an mir lobt, und zu allem, was man an mir tadelt. Nur wer blind gewesen ist und wieder sehend wurde, und nur wer eine so tief gegruendete und so maechtige Innenwelt besass, dass sie selbst dann, als er sehend wurde, fuer lebenslang seine ganze Aussenwelt beherrschte, nur der kann sich in alles hineindenken, was ich plante, was ich tat und was ich schrieb, und nur der besitzt die Faehigkeit, mich zu kritisieren, sonst_keiner! Ich war die ganze Zeit des Tages nicht bei den Eltern, sondern bei Grossmutter. Sie war mein alles. Sie war mein Vater, meine Mutter, meine Erzieherin, mein Licht, mein Sonnenschein, der meinen Augen fehlte. Alles, was ich in mich aufnahm, leiblich und geistig, das kam von ihr. So wurde ich ihr ganz selbstverstaendlich aehnlich. Was sie mir erzaehlte, das erzaehlte ich ihr wieder und fuegte hinzu, was meine kindliche Phantasie teils erriet und teils erschaute. Ich erzaehlte es den Geschwistern und auch anderen, die zu mir kamen, weil ich nicht zu ihnen konnte. Ich erzaehlte in Grossmutters Tone, mit ihrer Sicherheit, die keinen Zweifel duldete. Das klang altklug und ueberzeugte. Es verlieh mir den Nimbus eines ueber sein Alter hinaus sehr klugen Kindes. So kamen auch Erwachsene, um mir zuzuhoeren, und ich waere vielleicht zum Orakel oder zum Wunderkind verdorben worden, wenn Grossmutter nicht so sehr bescheiden, wahr und klug gewesen waere, da, wo ich in Gefahr stand, einzuspringen. Einem blinden Kind wird wenig Arbeit gegeben. Es hat mehr Zeit, zu denken und zu gruebeln als andere Kinder. Da kann es leicht klueger erscheinen, als es ist. Leider besass Vater nicht diese kluge Bescheidenheit der Grossmutter und auch nicht die schweigsame Bedachtsamkeit der Mutter. Er sprach sehr gern und uebertrieb, wie wir bereits wissen, in allem, was er tat und was er sagte. So kam es, dass ich dem Schicksal, dem ich hier entging, spaeter doch noch verfiel, dem entsetzlichen Schicksal, totgelobt zu werden. Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon derart entwickelt und in seinen spaeteren Grundzuegen festgelegt, dass selbst die Welt des Lichtes, die sich nun vor meinen Augen oeffnete, nicht die Macht besass, den Schwerpunkt, der in meinem Innern lag, zu sich hinauszuziehen. Ich blieb ein Kind fuer alle Zeit, ein um so groesseres Kind, je groesser ich wurde, und zwar ein Kind, in dem die Seele derart die Oberhand besass und noch heute besitzt, dass keine Ruecksicht auf die Aussenwelt und auf das materielle Leben mich jemals bestimmen kann, etwas zu unterlassen, was ich fuer seelisch richtig befunden habe. Und so lange ich lebe, habe ich unausgesetzt die Erfahrung gemacht, dass es dem Volke genau ebenso ergeht wie mir. Es handelt am liebsten nicht aus aeusserlichen Gruenden, sondern aus sich selbst heraus, aus seiner Seele heraus. Die groessten und schoensten Taten der Nation wurden aus ihrem Innern heraus geboren. Und waere der Geist eines Dichters auch noch so stark und noch so erfinderisch, so wird er es doch niemals fertig bringen der Geschichte eines Volkes den Stoff zu einem grossen, nationalen Drama aufzuzwingen, der diesem Volke nicht seelisch gegeben war. Und gruenden wir hunderte von Jugendschriftenvereinen, von Jugendschriftenkommissionen und tausende von Jugend-, Schueler- und Volksbibliotheken, wir werden das Gegenteil von dem erreichen, was wir erreichen wollen, falls wir Buecher waehlen, deren Beduerfnis nur in unserm Pedantismus und in unserer Methodik liegt, nicht aber in den Seelen derer, denen wir sie aufzwingen. Ich habe diese Seelen kennengelernt, habe sie studiert seit meiner Jugendzeit. Ich bin selbst eine solche Seele gewesen, bin sie sogar noch heut. Darum weiss ich, dass man dem Volke und der Jugend keine Tugendmusterbuecher in die Hand geben darf, weil es eben keinen Menschen gibt, der ein Tugendmuster ist. Der Leser will Wahrheit, will Natur. Er hasst die sittlichen Haubenstoecke, die immer genauso stehen, wie man sie stellt, weder Fleisch noch Blut besitzen und genau nur das anhaben, was ihnen von der Putzmacherin Schulmoralitaet angezogen wird. Die Aufgabe des Jugendschriftstellers besteht nicht darin, Gestalten zu schaffen, die in jeder Lage so ueberaus koestlich einwandfrei handeln, dass man sie unbedingt ueberdruessig wird, sondern seine groesste Kunst besteht darin, dass er von seinen Figuren getrost die Fehler und Dummheiten machen laesst, vor denen er die jugendlichen Leser bewahren will. Es ist tausendmal besser, er laesst seine Romanfiguren zugrunde gehen, als dass der ergrimmte Knabe hingeht, um das Boese, das nicht geschah, obgleich es der Wahrheit nach geschehen musste, nun seinerseits aus dem Buche in das Leben zu uebertragen. Hier liegt die Achse, um die sich unsere Jugend- und Volksliteratur zu drehen hat. Musterknaben und Mustermenschen sind schlechte Vorbilder; sie stossen ab. Man zeige Negatives, aber lebenswahr und packend, so wird man Positives erreichen. Nachdem wir zu Miete gezogen waren, wohnten wir am Marktplatze, auf dessen Mitte die Kirche stand. Dieser Platz war der Lieblingsspielplatz der Kinder. Gegen Abend versammelten sich die aelteren Schulknaben unter dem Kirchentore zum Geschichtenerzaehlen. Das war eine hoechst exklusive Gesellschaft. Es durfte nicht jeder hin. Kam einer, den man nicht wollte, so machte man keinen “Summs”; der wurde fortgepruegelt und kehrte gewiss nicht wieder. Ich aber kam nicht, und ich bat auch nicht, sondern ich wurde geholt, obgleich ich erst fuenf Jahre alt war, die Andern aber dreizehn und vierzehn Jahre. Welch eine Ehre! So etwas war noch niemals dagewesen! Das hatte ich der Grossmutter und ihren Erzaehlungen zu verdanken! Zunaechst verhielt ich mich still und machte den Zuhoerer, bis ich alle Erzaehlungen kannte, die hier im Schwange waren. Man nahm mir das nicht uebel, denn ich hatte erst vor Kurzem sehen gelernt, hielt die Augen noch halb verbunden und wurde von Allen geschont. Dann aber, als das vorueber war, wurde ich herangezogen. Alle Tage ein anderes Maerchen, eine andere Geschichte, eine andere Erzaehlung. Das war viel, sehr viel verlangt; aber ich leistete es, und zwar mit Vergnuegen. Grossmutter arbeitete mit. Was ich in der Daemmerstunde zu erzaehlen hatte, das arbeiteten wir am fruehen Morgen, noch ehe wir unsere Morgensuppe assen, durch. Dann war ich, wenn ich an das Kirchtor kam, wohlvorbereitet. Unser schoenes Buch “Der Hakawati” gab Stoff fuer lange Zeit. Hierzu kam, dass dieser Stoff sich mit der Zeit ganz ausserordentlich vermehrte, doch freilich nicht im Buche, sondern in mir. Das war die sehr einfache und sehr natuerliche Folge davon, dass ich nach meinem Sehendwerden die seelische Welt, die durch den Hakawati in mir entstanden war, nun in die sichtbare Welt der Farben, Formen, Koerper und Flaechen zu uebersetzen hatte. Dadurch entstanden unzaehlige Variationen und Vervielfaeltigungen, die ich nur dadurch, dass ich sie erzaehlte, in feste Gestalt und Form zu bringen vermochte. Inzwischen hatte Vater es erreicht, dass ich in die Schule gehen durfte. Das durfte man erst vom sechsten Lebensjahr an; aber meine Mutter war als Hebamme sehr oft bei dem Herrn Pastor, der ihr diesen Wunsch als Lokalschulinspektor sehr gern erfuellte, und mit dem Herrn Elementarlehrer Schulze kam Vater woechentlich zweimal zusammen, um Skat oder Schafkopf zu spielen, und darum hielt es nicht schwer, die Erlaubnis auch von dieser Seite zu erlangen. Ich lernte sehr schnell lesen und schreiben, denn Vater und Grossmutter halfen dabei, und dann, als ich das konnte, glaubte Vater die Zeit gekommen, das, was er mit mir vorhatte, zu beginnen. Es sollte sich naemlich an mir erfuellen, was sich an ihm nicht erfuellt hatte. Er hatte im Forsthause einen Blick in bessere und menschlichere Verhaeltnisse tun duerfen. Und er musste immer daran denken, dass es unter unsern Vorfahren bedeutende Maenner gegeben hatte, von denen wir, ihre Nachkommen, sagen mussten, dass wir ihrer nicht wuerdig seien. Er hatte das werden gewollt, war aber von den Verhaeltnissen gewaltsam niedergehalten worden. Das kraenkte und das aergerte ihn. Fuer sich hatte er mit diesen Verhaeltnissen abgeschlossen. Er musste bleiben, was er war, ein armer, ungebildeter Professionist. Aber er uebertrug seine Wuensche und Hoffnungen und alles Andere nun auf mich. Und er nahm sich vor, alles Moegliche zu tun und nichts zu versaeumen, aus mir den Mann zu machen, welcher zu werden ihm versagt gewesen war. Das kann man gewiss nur loeblich von ihm nennen. Nur kam es darauf an, welchen Weg und welche Weise er meiner Erziehung gab. Er wollte, was fuer mich gut und gluecklich war. Das konnte er nur mit guten und gluecklichen Mitteln erreichen. Leider aber muss ich, ohne der Zukunft vorzugreifen, sagen, dass meine “Kindheit” jetzt, mit dem fuenften Jahre, zu Ende war. Sie starb in dem Augenblick, an dem ich die Augen zum Sehen oeffnete. Was diese armen Augen von da an bis heut zu sehen bekamen, war nichts als Arbeit und Arbeit, Sorge und Sorge, Leid und Leid, bis zur heutigen Qual am Marterpfahl, an dem man mich schier ohne Ende peinigt. — — — _________ III Keine Jugend. _____ Du liebe, schoene, goldene Jugendzeit! Wie oft habe ich dich gesehen, wie oft mich ueber dich gefreut! Bei Andern, immer nur bei Andern! Bei mir warst du nicht. Um mich gingst du herum, in einem weiten, weiten Bogen. Ich bin nicht neidisch gewesen, wahrlich nicht, denn zum Neid habe ich ueberhaupt keinen Platz in mir; aber wehe hat es doch getan, wenn ich den Sonnenschein auf dem Leben Anderer liegen sah, und ich stand so im hintersten, kalten Schattenwinkel. Und ich hatte doch auch ein Herz, und ich sehnte mich doch auch nach Licht und Waerme. Aber Liebe muss sein, selbst im alleraermsten Leben, und wenn dieser Aermste nur will, so kann er reicher als der Reiche sein. Er braucht nur in sich selbst zu suchen. Da findet er, was ihm das Geschick verweigert, und kann es hinausgeben an alle, alle, von denen er nichts bekommt. Denn wahrlich, wahrlich, es ist besser, arm und doch der Gebende zu sein, als reich und doch der immer nur Empfangende! Hier ist es wohl am Platze, einen Irrtum, in dem man sich ueber mich befindet, gleich von vornherein aufzuklaeren. Man haelt mich naemlich fuer sehr reich, sogar fuer einen Millionaer; das bin ich aber nicht. Ich hatte bisher nur mein “gutes Auskommen,” weiter nichts. Selbst hiermit wird es hoechst wahrscheinlich zu Ende sein, denn die nimmer ruhenden Angriffe gegen mich muessen endlich doch erreichen, was man mit ihnen erreichen will. Ich mache mich mit dem Gedanken vertraut, dass ich genau so sterben werde, wie ich geboren bin, naemlich als ein armer, nichts besitzender Mensch. Das tut aber nichts. Das ist rein aeusserlich. Das kann an meinem inneren Menschen und seiner Zukunft gar nichts aendern. Die Luege, dass ich Millionaer sei, dass mein Einkommen 180 000 Mark betragen habe, stammt von einem raffinierten, sehr klug vorausberechnenden Gegner, der ein scharfer Menschenkenner ist und sich keinen Augenblick bedenkt, diese Menschenkenntnis selbst gegen die Stimme des Gewissens in Gewinn und Vorteil umzusetzen. Er wusste sehr wohl, was er tat, als er seine Luege in die Zeitungen lanzierte. Er erweckte dadurch den allerniedrigsten und allerschlimmsten Feind gegen mich, den Neid. Die frueheren Angriffe gegen mich sind jetzt kaum der Rede wert. Aber seit man mich im Besitz von Millionen waehnt, geht man geradezu gnaden- und erbarmungslos gegen mich vor. Sogar in den Artikeln sonst ganz achtbarer und humaner Kritiker spielt diese Geldgehaessigkeit eine Rolle. Es beruehrt unendlich peinlich, Leute, die sich in jedem anderen Falle als litararische [sic] Kavaliere erweisen, auf diesem ordinaeren Gaul herumreiten zu sehen! Ich besitze ein schuldenfreies Haus, in dem ich wohne, und ein kleines Kapital als eisernen Bestand fuer meine Reisen, weiter nichts. Von dem, was ich einnehme, bleibt nichts uebrig. Das reicht grad aus fuer meinen bescheidenen Haushalt und fuer die schweren Opfer, die ich den mir aufgezwungenen Prozessen zu bringen habe. Frueher konnte ich meinem Herzen Genuege tun und gegen arme Menschen, besonders gegen arme Leser meiner Buecher, mildtaetig sein. Das hat nun aufgehoert. Zwar werde ich infolge jener raffinierten Millionenluege jetzt mehr als je mit Zuschriften gepeinigt, in denen man Geld von mir verlangt, aber ich kann leider nicht mehr helfen, und fast ein Jeder, den ich abweisen muss, fuehlt sich enttaeuscht und wird zum Feinde. Ich konstatiere, dass jene Gewissenlosigkeit, mich als einen steinreichen Mann zu schildern, mir mehr, viel mehr geschadet hat als alle gegnerischen Kritiken und sonstigen Feindseligkeiten zusammengenommen. Nach dieser Abschweifung, die ich fuer noetig hielt, nun wieder zurueck zur “Jugend” dieses angeblichen “Millionaers”, der nach ganz anderen Schaetzen strebt als alle die, welche ihn auszubeuten trachten. Es waren damals schlimme Zeiten, zumal fuer die armen Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat liegt. Dem gegenwaertigen Wohlstande ist es fast unmoeglich, sich vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgange der vierziger Jahre dort durch das Leben hungerte. Arbeitslosigkeit, Misswuchs, Teuerung und Revolution, diese vier Worte erklaeren Alles. Es mangelte uns an fast Allem, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft gehoert. Wir baten uns von unserem Nachbarn, dem Gastwirt “Zur Stadt Glauchau”, des Mittags die Kartoffelschalen aus, um die wenigen Brocken, die vielleicht noch daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden. Wir gingen nach der “roten Muehle” und liessen uns einige Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um irgend etwas Nahrungsmittelaehnliches daraus zu machen. Wir pflueckten von den Schutthaufen Melde, von den Rainen Otterzungen und von den Zaeunen wilden Lattich, um das zu kochen und mit ihm den Magen zu fuellen. Die Blaetter der Melde fuehlen sich fettig an. Das ergab beim Kochen zwei oder drei kleine Fettaeuglein, die auf dem Wasser schwammen. Wie nahrhaft und wie delikat uns das erschien! Gluecklicherweise gab es unter den vielen Webern des Ortes, die arbeitslos waren, auch einige wenige Strumpfwirker, deren Geschaeft nicht ganz zum Stillstehen kam. Sie webten Handschuhe, so ausserordentlich billige weisse Handschuhe, die man den Leichen anzieht, ehe sie begraben werden. Es gelang Mutter, solche Leichenhandschuhe zum Naehen zu bekommen. Da sassen wir nun alle, der Vater ausgenommen, von frueh bis abends spaet und stichelten darauf los. Mutter naehte die Daumen, denn das war schwer, Grossmutter die Laengen mit dem kleinen Finger und ich mit den Schwestern die Mittelfinger. Wenn wir recht sehr fleissig waren, hatten wir alle zusammen am Schluss der Woche elf oder sogar auch zwoelf Neugroschen verdient. Welch ein Kapital! Dafuer gab es fuer fuenf Pfennig Runkelruebensyrup, auf fuenf Dreierbroetchen gestrichen; die wurden sehr gewissenhaft zerkleinert und verteilt. Das war zugleich Belohnung fuer die verflossene und Anregung fuer die kommende Woche. Waehrend wir in dieser Weise fleissig daheim arbeiteten, hatte Vater ebenso fleissig auswaerts zu tun; leider aber war seine Arbeit mehr ehrend als naehrend. Es galt naemlich, den Koenig Friedrich August und die ganze saechsische Regierung vor dem Untergange zu retten. Vorher hatte man grad das Entgegengesetzte gedacht: Der Koenig sollte abgesetzt und die Regierung aus dem Lande gejagt werden. Das wollte man fast in ganz Sachsen; aber in Hohenstein und Ernsttal kam man sehr bald hiervon zurueck, und zwar aus den vortrefflichsten Gruenden; es war naemlich zu gefaehrlich! Die lautesten Schreier hatten sich zusammengetan und einen Baeckerladen gestuermt. Da kam die heilige Hermandad und sperrte sie alle ein. Sie fuehlten sich zwar einige Tage lang als politische Opfer und Maertyrer gross und maechtig, aber ihre Frauen wollten von solchem Heldentum nichts wissen; sie straeubten sich mit aller Gewalt dagegen. Sie kamen zusammen; sie gingen auseinander; sie liefen auf und ab; sie gewannen die anderen Frauen; sie politisierten; sie diplomatisierten; sie drohten; sie baten. Ruhige, vernuenftige Maenner gesellten sich zu ihnen. Der alte, ehrwuerdige Pastor Schmidt hielt Friedensreden. Der Herr Stadtrichter Layritz auch. Der Polizist Eberhardt ging von Haus zu Haus und warnte vor den schrecklichen Folgen der Empoerung; der Wachtmeister Grabner sekundierte ihm dabei. Am grossen Kirchentor erzaehlten sich die Jungens in der Abenddaemmerung nur noch vom Erschossenwerden, vom Aufgehangenwerden und ganz besonders vom Schafott, welches derart beschrieben wurde, dass Jedermann, der es hoerte, sich mit der Hand nach Hals und Nacken griff. So kam es, dass die Stimmung sich ganz gruendlich aenderte. Von der Absetzung des Koenigs war keine Rede mehr. Im Gegenteil, er hatte zu bleiben, denn einen besseren als ihn konnte es nirgends geben. Von jetzt an galt es nicht mehr, ihn zu vertreiben, sondern ihn zu beschuetzen. Man hielt Versammlungen ab, um zu beraten, in welcher Weise dies am besten geschehe, und da allueberall vom Kampf und Krieg und Sieg gesprochen wurde, so verstand es sich ganz von selbst, dass auch wir Jungens uns nicht nur in kriegerische Stimmungen, sondern auch in kriegerische Gewaender und kriegerische Heldentaten hineinarbeiteten. Ich freilich nur von ferne, denn ich war zu klein dazu und hatte keine Zeit; ich musste Handschuhe naehen. Aber die anderen Buben und Maedels standen ueberall an den Ecken und Winkeln herum, erzaehlten einander, was sie daheim bei den Eltern gehoert hatten, und hielten hoechst wichtige Beratungen ueber die beste Art und Weise, die Monarchie zu erhalten und die Republik zu hintertreiben. Besonders ueber eine alte, boese Frau war man empoert. Die war an Allem schuld. Sie hiess die Anarchie und wohnte im tiefsten Walde. Aber des Nachts kam sie in die Staedte, um die Haeuser niederzureissen und die Scheunen anzubrennen; so eine Bestie! Gluecklicherweise waren unsere Vaeter lauter Helden, von denen keiner sich vor irgend Jemand fuerchtete, auch nicht vor dieser ruppigen Anarchie. Man beschloss die allgemeine Bewaffnung fuer Koenig und Vaterland. In Ernsttal gab es schon seit alten Zeiten eine Schuetzen- und eine Gardekompagnie. Die erstere schoss nach einem hoelzernen Vogel, die letzere [sic] nach einer hoelzernen Scheibe. Zu diesen beiden Kompagnieen sollten noch zwei oder drei andere gegruendet werden, besonders auch eine polnische Sensenkompagnie zum Totstechen aus der Ferne. Da stellte es sich denn heraus, dass es in unserem Staedtchen eine ganz ungewoehnliche Menge von Leuten gab, die ungemein kriegerisch veranlagt waren, strategisch sowohl als auch taktisch. Man wollte keinen von ihnen missen. Man zaehlte sie. Es waren dreiunddreissig. Das stimmte sehr gut und rechnete sich glatt aus, naemlich: Man brauchte pro Kompagnie je einen Hauptmann, einen Oberleutnant und einen Leutnant; wenn man zu den Schuetzen und der Garde noch neun neue Kompagnieen formte, so ergab das in Summa elf, und alle dreiunddreissig Offiziere waren unter Dach und Fach. Dieser Vorschlag wurde ausgefuehrt, wobei die Kopfzahl der einzelnen Kompagnieen ganz selbstverstaendlich nur klein bemessen sein konnte; aber der Tambourmajor, Herr Strumpfwirkermeister Loeser, der beim Militaer gestanden und darum alle dreiunddreissig Offiziere einzuexerzieren hatte, behauptete, dies sei nur vorteilhaft, denn je kleiner eine Kompagnie sei, desto weniger Leute koennten im Kriege von ihr weggeschossen werden, und so blieb es bei dem, was beschlossen worden war. Mein Vater war Hauptmann der siebenten Kompagnie. Er bekam einen Saebel und eine Signalpfeife. Aber er war mit dieser Charge nicht zufrieden; er trachtete nach hoeherem. Darum beschloss er, sobald er ausexerziert war, sich ganz heimlich, ohne dass irgend Jemand etwas davon bemerkte, im “hoeheren Kommando” einzuueben. Und da er mich ausersah, ihm dabei behilflich zu sein, so wurde ich einstweilen vom Handschuhnaehen dispensiert und wanderte mit ihm tagtaeglich hinaus in den Wald, wo auf einer rings von Bueschen und Baeumen umgebenen Wiese unsere geheimen Evolutionen vorgenommen wurden. Vater war bald Leutnant, bald Hauptmann, bald Oberst, bald General; ich aber war die saechsische Armee. Ich wurde erst als “Zug”, dann als ganze Kompagnie einexerziert. Hierauf wurde ich Bataillon, Regiment, Brigade und Division. Ich musste bald reiten, bald laufen, bald vor und bald zurueck, bald nach rechts und bald nach links, bald angreifen und bald retirieren. Ich war zwar nicht auf den Kopf gefallen und hatte Lust und Liebe zur Sache. Aber ich war noch so jung und klein, und so kann man sich bei dem jaehen Temperamente meines Generals wohl denken, dass es mir nicht moeglich war, mich in so kurzer Zeit von der einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur vollzaehligen, gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die Strenge der militaerischen Disziplin an mir erfahren zu haben. Aber ich weinte bei keiner Strafe; ich war zu stolz dazu. Eine saechsische Armee, welche weint, die gibt es nicht! Auch liess der Lohn nicht auf sich warten. Als Vater Vizekommandant geworden war, sagte er zu mir: “Junge, dazu hast du viel geholfen. Ich baue dir eine Trommel. Du sollst Tambour werden!” Wie das mich freute! Und es gab Augenblicke, in denen ich wirklich der Ueberzeugung war, alle diese Pueffe, Stoesse, Hiebe und Katzenkoepfe nur zum Wohle und zur Rettung des Koenigs von Sachsen und seines Ministeriums empfangen zu haben! Wenn er das wuesste! Die Trommel bekam ich, denn Vater hielt stets Wort. Der Klempnermeister Leistner am Markt in Hohenstein war ihm behilflich, sie zu bauen. Es war eine sehr gut gelungene Solotrommel; sie existiert noch heut. Ich bin spaeter, als ich etwas groesser war, doch auch noch als Knabe, Tambour bei der siebenten Kompagnie gewesen und werde diese Trommel noch einmal zu erwaehnen haben. Die elf Kompagnieen taten ihre Schuldigkeit. Sie exerzierten fast taeglich, wozu mehr als genug Zeit vorhanden war, weil es keine Arbeit gab. Wie wir trotzdem existieren konnten und wovon wir eigentlich gelebt haben, das kann ich heute nicht mehr sagen; es kommt mir wie ein Wunder vor. Es gab auch an andern Orten “Koenigsretter”. Die standen miteinander in Verbindung und hatten beschlossen, sobald der Befehl dazu gegeben werde, nach Dresden aufzubrechen und fuer den Koenig alles zu wagen, unter Umstaenden sogar das Leben. Und eines schoenen Tages kam er, dieser Befehl. Die Signalhoerner erklangen; die Trommeln wirbelten. Aus allen Tueren stroemten die Helden, um sich auf dem Marktplatz zu versammeln. Der Fleischermeister Haase war Regimentsadjutant. Er hatte sich ein Pferd geborgt und sass da mitten drauf. Es war keine leichte Sache fuer ihn, zwischen dem Kommandanten, dem Vizekommandanten und den Hauptleuten zu vermitteln, denn der Gaul wollte immer anders als der Reiter. Die Frau Stadtrichter Layritz hing eine Tischdecke und ihre Sonntagssaloppe zu den Fenstern heraus. Das war geflaggt. Wer etwas dazu hatte, der machte es ihr nach. Dadurch gewann der Marktplatz ein festlich frohes Angesicht. Man war ueberhaupt nur begeistert. Keine Spur von Abschiedsschmerz! Niemand hatte das Beduerfnis, von Frau und Kindern besonders Abschied zu nehmen. Lauter Jubel, dreimal hoch, vivat, hurrah an allen Orten! Der Herr Kommandant hielt eine Rede. Hierauf ein grandioser Tusch der Blasinstrumente und Trommeln. Dann die Kommandorufe der einzelnen Hauptleute: “Achtung — — Augen rechts, rrrricht’t euch — — Augen grrrade aus — — G’wehr bei Fuss — — G’wehr auf — — G’wehr praesentiert — — G’wehr ueber — — Rrrrechts um — — Vorwaerts marsch!” Voran der Herr Adjutant auf dem geborgten Pferde, hinter ihm die Musikanten mit dem tuerkischen Schellenbaum, die Tamboure, sodann der Kommandant und der Vizekommandant, hierauf die Schuetzen, die Garde und die neun anderen Kompagnieen, so marschierten die Heerscharen links, rechts — links, rechts zur damaligen Hintergasse hinaus und am Zechenteiche vorueber, dem wir damals unsere Froesche anvertrauten, nach Wuestenbrand, um ueber Chemnitz und Freiberg nach der Hauptstadt zu gelangen. Eine Menge Angehoeriger marschierte hinterdrein, um den Mutigen bis an das Weichbild des Staedtchens das Geleit zu geben. Ich aber stand bei meinem ganz besonderen Liebling, dem Herrn Kantor Strauch, der unser Nachbar war, an seiner Haustuer, dabei die Friederike, seine Frau, die eine Schwester des Herrn Stadtrichters Layritz war. Sie hatten keine Kinder, und ich war berufen, ihnen ihre kleinen wirtschaftlichen Angelegenheiten zu besorgen. Ihn liebte ich gluehend; sie aber war mir zuwider, denn sie belohnte alle meine Wege, die ich fuer sie tat, nur mit angefaulten Aepfeln oder mit teigigen Birnen und erlaubte ihrem Manne nicht, monatlich mehr als nur zwei Zigarren zu rauchen, das Stueck zu zwei Pfennige. Die musste ich ihm vom Kraemer holen, weil er sich schaemte, so billige selbst zu kaufen, und er rauchte sie im Hofe, weil die Friederike den Tabaksgeruch nicht vertragen konnte. Auch er war heut von dem Anblicke unserer Truppen aufrichtig begeistert. Indem er ihnen nachblickte, sagte er: “Es ist doch etwas Grosses, etwas Edles um solche Begeisterung fuer Gott, fuer Koenig und Vaterland!” “Aber was bringt sie ein?” fragte die Frau Kantorin. “Das Glueck bringt sie ein, das wirkliche, das wahre Glueck!” Bei diesen Worten trat er in das Haus; er liebte es nicht, zu streiten. Ich ging nach unserm Hof. Da stand ein Franzaepfelbaum. Unter den setzte ich mich nieder und dachte ueber das nach, was der Herr Kantor gesagt hatte. Also Gott, Koenig und Vaterland, in diesen Worten liegt das wahre Glueck; das wollte und musste ich mir merken! Spaeter hat dann das Leben an diesen drei Worten herumgemodelt und herumgemeisselt; aber moegen sich die Formen veraendert haben, das innere Wesen ist geblieben. Von allen, die heut ausgezogen waren, um grosse Heldentaten zu verrichten, kam zuerst der geliehene Gaul zurueck. Der Herr Adjutant hatte ihn einem Boten uebergeben, der ihn heimbrachte, weil Laufen besser sei als Reiten und weil der Reiter nicht genug Geld uebrig habe, das Pferd zu ersetzen, falls es im Kampfe verwundet oder gar erschossen werden sollte. Gegen Abend folgte der Webermeister Kretzschmar. Er behauptete, dass er mit seinen Plattfuessen nicht weitergekonnt habe; dies sei ein Naturfehler, den er nicht aendern koenne. Als es dunkel geworden war, stellten sich noch einige andere ein, welche aus triftigen Gruenden entlassen worden waren und die die Nachricht brachten, dass unser Armeekorps hinter Chemnitz bei Oederan biwakiere und Spione nach Freiburg [sic] geschickt habe, das dortige Schlachtfeld auszukundschaften. Gegen Morgen kam die ueberraschende, aber ganz und gar nicht traurige Kunde, dass man aus Freiburg [sic] die Weisung erhalten habe, sofort wieder umzukehren; man werde gar nicht gebraucht, denn die Preussen seien in Dresden eingerueckt und so stehe fuer den Koenig und die Regierung nicht das Geringste mehr zu befuerchten. Man kann sich wohl denken, dass es heut nun keine Schule und keinerlei Arbeit gab. Auch ich empoerte mich gegen das Handschuhflicken. Ich riss einfach aus und gesellte mich den wackeren Buben und Maedels zu, welche elf Kompagnieen bilden und ihren heimkehrenden Vaetern entgegen ziehen sollten. Dieser Plan wurde ausgefuehrt. Wir kampierten bei den Wuestenbraender Teichen und zogen dann, als die Erwarteten kamen, mit ihnen unter klingendem Spiel und Trommelschlag den Schiesshausberg hinab, wo unsere verwaisten Frauen und Muetter standen, um uns alle, Gross und Klein, teils geruehrt, teils lachend in Empfang zu nehmen. Warum ich das alles so ausfuehrlich erzaehle? Des tiefen Eindruckes wegen, den es auf mich machte. Ich habe die Quellen nachzuweisen, aus denen die Ursachen meines Schicksals zusammengeflossen sind. Dass ich trotz allem, was spaeter geschah, niemals auch nur einen einzigen Augenblick im Gottesglauben wankte und selbst dann, wenn das Schicksal mich gegen die harten Tafeln der Gesetze schleuderte, nichts von der Achtung vor diesen Gesetzen verlor, das wurzelt teils in mir selbst, teils aber auch in diesen kleinen Ereignissen der fruehen Jugend, die alle mehr oder weniger bestimmend auf mich wirkten. Nie habe ich die Worte meines alten, guten Kantors vergessen, die mir nicht nur zu Fleisch und Blut, sondern zu Geist und Seele geworden sind. Nach diesen Aufregungen kehrte das Leben in seine ruhigen, frueheren Bahnen zurueck. Ich naehte wieder Handschuhe und ging in die Schule. Aber diese Schule genuegte dem Vater nicht. Ich sollte mehr lernen als das, was der damalige Elementarunterricht bot. Meine Stimme entwickelte sich zu einem guten, volltoenenden, umfangreichen Sopran. Infolgedessen nahm der Herr Kantor mich in die Kurrende auf. Ich wurde schnell treffsicher und der Oeffentlichkeit gegenueber mutig. So kam es, dass mir schon nach kurzer Zeit die Kirchensoli uebertragen wurden. Die Gemeinde war arm; sie hatte fuer teure Kirchenstuecke keine Mittel uebrig. Der Herr Kantor musste sie abschreiben, und ich schrieb mit. Wo das nicht angaengig war, da komponierte er selbst. Und er war Komponist! Und zwar was fuer einer! Aber er stammt aus dem kleinen, unbedeutenden Doerfchen Mittelbach, von blutarmen, ungebildeten Eltern, hatte sich durch das Musikstudium foermlich hindurchgehungert und, bis er Lehrer resp. Kantor wurde, nur in blauen Leinenrock und blaue Leinenhosen kleiden koennen und sah einen Taler fuer ein Vermoegen an, von dem man wochenlang leben konnte. Diese Armut hatte ihn um die Selbstbewertung gebracht. Er verstand es nicht, sich geltend zu machen. Er war mit allem zufrieden. Ein ganz vorzueglicher Orgel-, Klavier- und Violinspieler, konnte er auch die komponistische Behandlung jedes andern Musikinstrumentes und haette es schnell zu Ruhm und Verdienst bringen koennen, wenn ihm mehr Selbstvertrauen und Mut zu eigen gewesen waere. Jedermann wusste: Wo in Sachsen und den angrenzenden Gegenden eine neue Orgel eingeweiht wurde, da erschien ganz sicher der Kantor Strauch aus Ernsttal, um sie kennenzulernen und einmal spielen zu koennen. Das war die einzige Freude, die er sich goennte. Denn mehr werden zu wollen als nur Kantor von Ernsttal, dazu fehlte ihm ausser der Beherztheit besonders auch die Erlaubnis der sehr gestrengen Frau Friederike, die ein wohlhabendes Maedchen gewesen war und darum in der Ehe als zweiunddreissigfuessiger “Prinzipal” ertoente, waehrend dem Herrn Kantor nur die Stimme einer sanften “Vox humana” zugebilligt wurde. Sie besass mit ihrem Bruder gemeinsam einige Obstgaerten, deren Ertraegnisse mit der aeussersten Genauigkeit verwertet wurden, und dass ich von ihr nur angefaulte oder teigige Aepfel und Birnen bekam, das habe ich bereits erwaehnt. Sie wusste das aber mit einer Miene zu geben, als ob sie ein Koenigreich verschenke. Fuer den unendlich hohen Wert ihres Mannes, sowohl als Mensch wie auch als Kuenstler, hatte sie nicht das geringste Verstaendnis. Sie war an ihre Gaerten und er infolgedessen an Ernsttal gekettet. Um sein geistiges Dasein und seine seelischen Beduerfnisse bekuemmerte sie sich nicht. Sie oeffnete keines seiner Buecher, und seine vielen Kompositionen verschwanden, sobald sie vollendet waren, tief in den staubigen Kisten, die unter dem Dache standen. Als er gestorben war, hat sie das alles als Makulatur an die Papiermuehle verkauft, ohne dass ich dies verhindern konnte, denn ich war nicht daheim. Welch ein tiefes, von anderen kaum zu fassendes Elend es ist, fuer das ganze Leben an ein weibliches Wesen gebunden zu sein, welches nur in niederen Lueften atmet und selbst den begabtesten, ja genialsten Mann nicht in bessere Hoehen kommen laesst, das ist nicht auszusagen. Mein alter Kantor konnte dieses Elend nur darum ertragen, weil er eine ungemeine Fuegsamkeit besass und hierzu eine Gutmuetigkeit, die niemals vergessen konnte, dass er ein armer Teufel, die Friederike aber ein reiches Maedchen und ausserdem die Schwester des Herrn Stadtrichters gewesen war. Spaeter gab er mir Orgel-, Klavier- und Violinunterricht. Ich habe bereits gesagt, dass Vater den Bogen zur Violine selbst fertigte. Dieser Unterricht war ganz selbstverstaendlich gratis, denn die Eltern waren zu arm, ihn zu bezahlen. Damit war die gestrenge Frau Friederike gar nicht einverstanden. Der Orgelunterricht wurde in der Kirche und der Violinunterricht in der Schulstube gegeben; da konnte die Frau Kantorin keine Handhabe finden. Aber das Klavier stand in der Wohnstube, und wenn ich da klopfte, um anzufragen, so kam der Herr Kantor unter zehnmal neunmal mit dem Bescheid heraus: “Es gibt heut keinen Unterricht, lieber Karl. Meine Frau Friederike haelt es nicht aus; sie hat Migraene”. Manchmal hiess es auch “sie hat Vapeurs”. Was das war, wusste ich nicht, doch hielt ich es fuer eine Steigerung von dem, was ich auch nicht wusste, naemlich von der Migraene. Aber dass sich das immer nur dann einstellte, wenn ich klavierspielen kam, das wollte mir nicht gefallen. Der gute Herr Kantor glich das dadurch aus, dass er mich nach und nach, grad wie die Gelegenheit es brachte, auch in der Harmonielehre unterwies, was die Friederike gar nicht zu erfahren brauchte, doch war das in der spaeteren Knabenzeit, und so weit bin ich jetzt noch nicht. Wie mein Vater sich in Allem ungeduldig zeigte, so auch in dem, was er meine “Erziehung” nannte. Notabene mich “erzog” er; um die Schwestern bekuemmerte er sich weniger. Er hatte alle seine Hoffnungen darauf gesetzt, dass ich im Leben das erreichen werde, was von ihm nicht zu erreichen war, naemlich nicht nur eine gluecklichere, sondern auch eine geistig hoehere Lebensstellung. Denn das muss ich ihm nachruehmen, dass ihm zwar der Wunsch auf ein sogenanntes gutes Auskommen am naechsten stand, dass er aber den hoeheren Wert auf die kraeftige Entwickelung der geistigen Persoenlichkeit setzte. Er fuehlte das im Innern mehr und deutlicher, als er es in Worten auszudruecken vermochte. Ich sollte ein gebildeter, womoeglich ein hochgebildeter Mann werden, der fuer das allgemeine Menschheitswohl etwas zu leisten vermag; dies war sein Herzenswunsch, wenn er ihn auch nicht grad in diesen, sondern in andern Worten aeusserte. Man sieht, er verlangte nicht wenig, aber das war nicht Vermessenheit von ihm, sondern er glaubte stets an das, was er wuenschte, und war vollstaendig ueberzeugt, es erreichen zu koennen. Leider aber war er sich ueber die Wege, auf denen, und ueber die Mittel, durch welche dieses Ziel zu erreichen war, nicht klar, und er unterschaetzte die gewaltigen Hindernisse, die seinem Plane entgegenstanden. Er war zu jedem, selbst zum groessten Opfer bereit, aber er bedachte nicht, dass selbst das allergroesste Opfer eines armen Teufels dem Widerstande der Verhaeltnisse gegenueber kein Gramm, kein Quentchen wiegt. Und vor allen Dingen, er hatte keine Ahnung davon, dass ein ganz anderer Mann als er dazu gehoerte, mit leitender Hand derartigen Zielen zuzusteuern. Er war der Ansicht, dass ich vor allen Dingen so viel wie moeglich, so schnell wie moeglich zu lernen habe, und hiernach wurde mit groesster Energie gehandelt. Ich war mit fuenf Jahren in die Schule gekommen, aus der man mit vierzehn Jahren entlassen wurde. Das Lernen fiel mir leicht. Ich holte schnell meine zwei Jahre aeltere Schwester ein. Dann wurden die Schulbuecher aelterer Knaben gekauft. Ich musste daheim die Aufgaben loesen, die ihnen in der Schule gestellt waren. So wurde ich sehr bald klassenfremd, fuer so ein kleines, weiches Menschenkind ein grosses, psychologisches Uebel, von dem Vater freilich so viel wie nichts verstand. Ich glaube, dass sogar nicht einmal die Lehrer ahnten, was fuer ein grosser Fehler da begangen wurde. Sie gingen von der anspruchslosen Erwaegung aus, dass ein Knabe, den man in seiner Klasse nichts mehr lehren kann, ganz einfach und trotz seiner Jugend in die naechst hoehere Klasse zu versetzen ist. Diese Herren waren alle mehr oder weniger mit meinem Vater befreundet, und so drueckte sogar der Herr Lokalschulinspektor ein Auge darueber zu, dass ich als acht- oder neunjaehriger Knabe schon bei den elf- und zwoelfjaehrigen sass. In Beziehung auf meine geistigen Fortschritte, zu denen in einer Elementarschule freilich nicht viel gehoerte, war dies allerdings wohl richtig; seelisch aber bedeutete es einen grossen, schmerzlichen Diebstahl, den man an mir beging. Ich bemerke hier, dass ich sehr scharf zwischen Geist und Seele, zwischen geistig und seelisch unterscheide. Was mir in den Klassen, in die ich meinem Alter nach noch nicht gehoerte, fuer meinen kleinen Geist gegeben wurde, das wurde auf der andern Seite meiner Seele genommen. Ich sass nicht unter Altersgenossen. Ich wurde als Eindringling betrachtet und schwebte mit meinen kleinen, warmen, kindlich-seelischen Beduerfnissen in der Luft. Mit einem Worte, ich war gleich von Anfang an klassenfremd gewesen und wurde von Jahr zu Jahr klassenfremder. Die Kameraden, welche hinter mir lagen, hatte ich verloren, ohne die, bei denen ich mich befand, zu gewinnen. Ich bitte, ja nicht ueber dieses nur scheinbar winzige, hoechst unwichtige Knabenschicksal zu laecheln. Der Erzieher, der sich im Reiche der Menschen- und der Kindesseele auskennt, wird keinen Augenblick zoegern, dies ernst, sehr ernst zu nehmen. Jeder erwachsene Mensch und noch viel mehr jedes Kind will festen Boden unter den Fuessen haben, den es ja nicht verlieren darf. Mir aber war dieser Boden entzogen. Das, was man als “Jugend” bezeichnet, habe ich nie gehabt. Ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund ist mir nie beschieden gewesen. Die allereinfachste Folge davon ist, dass ich selbst noch heut, im hohen Alter, in meiner Heimat fremd bin, ja fremder noch als fremd. Man kennt mich dort nicht; man hat mich dort nie verstanden, und so ist es gekommen, dass um meine Person sich dort ein Gewebe von Sagen gesponnen hat, die ich ganz unmoeglich zu unterschreiben vermag. Das, was ich nach Vaters Ansicht zu lernen hatte, beschraenkte sich keineswegs auf den Schulunterricht und auf die Schularbeiten. Er holte allen moeglichen sogenannten Lehrstoff zusammen, ohne zu einer Auswahl befaehigt zu sein oder eine geordnete Reihenfolge bestimmen zu koennen. Er brachte Alles, was er fand, herbei. Ich musste es lesen oder gar abschreiben, weil er meinte, dass ich es dadurch besser behalten koenne. Was hatte ich da alles durchzumachen! Alte Gebetbuecher, Rechenbuecher, Naturgeschichten, gelehrte Abhandlungen, von denen ich kein Wort verstand. Eine Geographie Deutschlands aus dem Jahre 1802, ueber 500 Seiten stark, musste ich ganz abschreiben, um mir die Ziffern leichter einzupraegen. Die stimmten natuerlich laengst nicht mehr! Ich sass ganze Tage und halbe Naechte lang, um mir dieses wueste, unnoetige Zeug in den Kopf zu packen. Es war eine Verfuetterung und Ueberfuetterung sondergleichen. Ich waere hieran wahrscheinlich zu Grunde gegangen, wenn sich mein Koerper nicht trotz der aeusserst schmalen Kost so ueberaus kraeftig entwickelt haette, dass er selbst solche Anstrengungen ganz leidlich ertragen konnte. Und es gab auch Zeiten und Stunden der Erholung. Vater pflegte naemlich keinen Spaziergang und keinen Weg ueber Land zu machen, ohne mich mitzunehmen. Er pflegte hieran nur eine Bedingung zu knuepfen, naemlich die, dass kein Augenblick der Schulzeit dabei versaeumt wurde. Die Spaziergaenge durch Wald und Hain waren wegen seiner reichen Pflanzenkenntnisse immer hochinteressant. Aber es wurde auch eingekehrt. Es gab bestimmte Tage und bestimmte Restaurationen. Da kamen der Herr Lehrer Schulze, der Herr Rektor, der reiche Wetzel, der Herr Kaemmerer Thiele, der Kaufmann Vogel, der Schuetzenhauptmann Lippold und andere, um Kegel zu schieben oder einen Skat zu spielen. Vater war stets dabei und ich mit, denn ich musste. Er meinte, ich gehoere zu ihm. Er sah mich nicht gern mit anderen Knaben zusammen, weil ich da ohne Aufsicht sei. Dass ich bei ihm, in der Gesellschaft erwachsener Maenner, gewiss auch nicht besser aufgehoben war, dafuer hatte er kein Verstaendnis. Ich konnte da Dinge hoeren, und Beobachtungen machen, welche der Jugend am besten vorenthalten blieben. Uebrigens war Vater selbst in der angeregtesten Gesellschaft ausserordentlich maessig. Ich habe ihn niemals betrunken gesehen. Wenn er einkehrte, so war sein regelmaessiges Quantum ein Glas einfaches Bier fuer sieben Pfennige und ein Glas Kuemmel oder Doppelwacholder fuer sechs Pfennige; davon durfte auch ich mit trinken. Bei besonderen Veranlassungen teilte er ein Stueckchen Kuchen fuer sechs Pfennige mit mir. Niemand hat ihn jemals gewarnt, mich in solche Gesellschaften von Erwachsenen mitzubringen, selbst der Rektor und der Pastor nicht, der sich auch zuweilen einstellte. Diese Herren wenigstens mussten doch wissen, dass ich da selbst auf erlaubten und vollstaendig reinen Unterhaltungsgebieten als stiller, aber sehr aufmerksamer Zuhoerer in Dinge und Verhaeltnisse eingeweiht wurde, die mir noch Jahrzehnte lang fernzuliegen hatten. Ich wurde nicht fruehreif, denn dieses Wort pflegt man nur auf Geschlechtliches zu beziehen, und davon bekam ich nichts zu hoeren, sondern etwas noch viel Schlimmeres: Ich wurde aus meiner Kindheit herausgehoben und auf den harten, schmutzigen Weg gezerrt, auf dem meine Fuesse das Gefuehl haben mussten, als ob sie auf Glassplittern gingen. Wie wohl ich mich dann fuehlte, wenn ich zu Grossmutter kam und bei ihr mich in mein liebes, liebes Maerchenreich fluechten konnte! Freilich war ich viel zu jung, um einzusehen, dass dieses Reich sich aus der wahrsten, festesten Wirklichkeit erhob. Fuer mich hatte es keine Fuesse; es schwebte; es konnte mir erst spaeter, wenn ich mich zum Verstaendnis emporgearbeitet hatte, die Stuetze bieten, die mir so noetig war. Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte, die mich seitdem nicht wieder losgelassen hat. Es gab Theater. Zwar nur ein ganz gewoehnliches, armseliges Puppentheater, aber doch Theater. Das war im Webermeisterhause. Erster Platz drei Groschen, zweiter Platz zwei Groschen, dritter Platz einen Groschen, Kinder die Haelfte. Ich bekam die Erlaubnis, mit Grossmutter hinzugehen. Das kostete fuenfzehn Pfennige fuer uns beide. Es wurde gegeben: “Das Muellerroeschen oder die Schlacht bei Jena.” Meine Augen brannten; ich gluehte innerlich. Puppen, Puppen, Puppen! Aber sie lebten fuer mich. Sie sprachen; sie liebten und hassten; sie duldeten; sie fassten grosse, kuehne Entschluesse; sie opferten sich auf Koenig und fuer Vaterland. Das war es ja, was der Herr Kantor damals gesagt und bewundert hatte! Mein Herz jubelte. Als wir nach Hause gekommen waren, musste Grossmutter mir beschreiben, wie die Puppen bewegt werden. “An einem Holzkreuze,” erklaerte sie mir. “Von diesem Holzkreuze, gehen die Faeden hernieder, die an die Glieder der Puppen befestigt sind. Sie bewegen sich, sobald man oben das Kreuz bewegt.” “Aber sie sprechen doch!” sagte ich. “Nein, sondern die Person, die das Kreuz in den Haenden haelt, spricht. Es ist genauso, wie im wirklichen Leben.” “Wie meinst du das?” “Das verstehst du jetzt noch nicht; du wirst es aber verstehen lernen.” Ich gab keine Ruhe, bis wir die Erlaubnis erhielten, nochmals zu gehen. Es wurde gespielt “Doktor Faust oder Gott, Mensch und Teufel.” Es waere ein resultatloses Beginnen, den Eindruck, den dieses Stueck auf mich machte, in Worte fassen zu wollen. Das war nicht der Goethesche Faust, sondern der Faust des uralten Volksstueckes, nicht ein Drama, in dem die ganze Philosophie eines grossen Dichters aufgestapelt wurde und auch noch etwas mehr, sondern das war ein direkt aus der tiefsten Tiefe der Volksseele heraus zum Himmel klingender Schrei um Erloesung aus der Qual und Angst des Erdenlebens. Ich hoerte, ich fuehlte diesen Schrei, und ich schrie ihn mit, obgleich ich nur ein armer, unwissender Knabe war, damals wohl kaum neun Jahre alt. Der Goethesche Faust haette mir, dem Kinde, gar nichts sagen koennen; er sagt mir, aufrichtig gestanden, selbst heut noch nicht, was er der Menschheit wahrscheinlich hat sagen wollen und sollen; aber diese Puppen sprachen laut, fast ueberlaut, und was sie sagten, das war gross, unendlich gross, weil es so einfach, so unendlich einfach war: Ein Teufel, der nur dann zu Gott zurueckkehren darf, wenn er den Menschen mit sich bringt! Und die Faeden, diese Faeden; die alle nach oben gehen, mitten in den Himmel hinein! Und alles, alles, was sich da unten bewegt, das haengt am Kreuz, am Schmerz, an der Qual, am Erdenleid. Was nicht an diesem Kreuze haengt, ist ueberfluessig, ist bewegungslos, ist fuer den Himmel tot! Freilich kamen mir diese letzteren Gedanken damals noch nicht, noch lange nicht; aber Grossmutter sprach sich in dieser Weise, wenn auch nicht so deutlich, aus, und was ich nicht direkt vor Augen sah, das begann ich doch zu ahnen. Ich musste als Kurrendaner Sonn- und Feiertags zweimal in die Kirche, und ich tat dies gern. Ich kann mich nicht besinnen, jemals einen dieser Gottesdienste versaeumt zu haben. Aber ich bin aufrichtig genug, zu sagen, dass ich trotz aller Erbauung, die ich da fand, niemals einen so unbeschreiblich tiefen Eindruck aus der Kirche mit nach Hause genommen habe wie damals aus dem Puppentheater. Seit jenem Abende ist mir das Theater bis auf den heutigen Tag als eine Staette erschienen, durch deren Tor nichts dringen soll, was unsauber, haesslich oder unheilig ist. Als ich den Herrn Kantor fragte, wer dieses Theaterstueck ausgesonnen und niedergeschrieben habe, antwortete er, das sei kein einzelner Mensch, sondern die Seele der ganzen Menschheit gewesen, und ein grosser, beruehmter deutscher Dichter, Wolfgang Goethe geheissen, habe daraus ein herrliches Kunstwerk gemacht, welches nicht fuer Puppen, sondern fuer lebende Menschen geschrieben sei. Da fiel ich schnell ein: “Herr Kantor, ich will auch so ein grosser Dichter werden, der nicht fuer Puppen, sondern nur fuer lebende Menschen schreibt! Wie habe ich das anzufangen?” Da sah er mich sehr lange und unter einem fast mitleidigen Laecheln an und antwortete: “Fange es an, wie du willst, mein Junge, so werden es doch meist nur Puppen sein, denen du deine Arbeit und dein Dasein opferst.” Diesen Bescheid habe ich freilich erst spaeter verstehen lernen; aber diese beiden Abende haben ohne Zweifel sehr bestimmend auf meine kleine Seele gewirkt. Gott, Mensch und Teufel sind meine Lieblingsthemata gewesen und geblieben, und der Gedanke, dass die meisten Menschen nur Puppen seien, die sich nicht von selbst bewegen, sondern bewegt werden, steht bei allem, was ich tue, im nahen Hintergrunde. Ob Gott, ob der Teufel oder ob ein Mensch, ein Fuerst des Geistes oder ein Fuerst der Waffen, das Kreuz, von dem die Faeden herunterhaengen, in den Haenden haelt, um das Volk der Menschen zu beeinflussen, das ist niemals sofort, sondern immer nur erst spaeter an den Folgen zu ersehen. Kurze Zeit darauf lernte ich auch Stuecke kennen, die nicht von der Volksseele, sondern von Dichtern fuer das Theater geschrieben worden waren, und das ist der Punkt, an dem ich auf meine Trommel zurueckzukommen habe. Es liess sich eine Schauspielertruppe fuer einige Zeit in Ernsttal nieder. Es handelte sich also nicht um ein Puppen-, sondern um ein wirkliches Theater. Die Preise waren mehr als maessig: Erster Platz 50 Pfennige, zweiter Platz 25 Pfennige, dritter Platz 15 Pfennige und vierter Platz 10 Pfennige, nur zum Stehen. Aber trotz dieser Billigkeit blieb taeglich ueber die Haelfte der Sitze leer. Die “Kuenstler” fielen in Schulden. Dem Herrn Direktor wurde himmelangst. Schon konnte er die Saalmiete nicht mehr bezahlen; da erschien ihm ein Retter, und dieser Retter war — — — ich. Er hatte beim Spazierengehen meinen Vater getroffen und ihm seine Not geklagt. Beide berieten. Das Resultat war, dass Vater schleunigst nach Hause kam und zu mir sagte: “Karl, hole deine Trommel herunter; wir muessen sie putzen!” “Wozu?” fragte ich. “Du hast die Preziosa und alle ihre Zigeuner dreimal ueber die ganze Buehne herumzutrommeln”. “Wer ist die Preziosa?” “Eine junge, schoene Zigeunerin, die eigentlich eine Grafenstochter ist. Sie wurde von den Zigeunern geraubt. Jetzt kommt sie zurueck und findet ihre Eltern. Du bist der Tambour und bekommst blanke


title: “Mein Leben Und Streben By Karl May " ShowToc: true date: “2022-12-18” author: “Michelle Nelson”


Selbstbiographie von Karl May Band I Freiburg i. Br.Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld Druck der Hoffmannschen Buchdruckerei in Stuttgart. Wenn dich die Welt aus ihren Toren stößt, So gehe ruhig fort, und laß das Klagen. Sie hat durch die Verstoßung dich erlöst Und ihre Schuld an dir nun selbst zu tragen. (Karl May “Im Reiche des silbernen Löwen”) Inhalt. _____ I. Das Märchen von Sitara II. Meine Kindheit III. Keine Jugend IV. Seminar- und Lehrerzeit V. Im Abgrunde VI. Bei der Kolportage VII. Meine WerkeVIII. Meine Prozesse IX. Schluß _________ I. Das Märchen von Sitara. _____ Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden Weges nach der Sonne geht und dann in derselben Richtung noch drei Monate lang über die Sonne hinaus, so kommt man an einen Stern, welcher Sitara heißt. Sitara ist ein persarabisches Wort und bedeutet eben “Stern”. Dieser Stern hat mit unserer Erde viel, sehr viel gemein. Sein Durchmesser ist 1700 Meilen und sein Aequator 5400 Meilen lang. Er dreht sich um sich selbst und zugleich auch um die Sonne. Die Bewegung um sich selbst dauert genau einen Tag, die Bewegung um die Sonne ebenso genau ein Jahr, keine Sekunde mehr oder weniger. Seine Oberfläche besteht zu einem Teile aus Land und zu zwei Teilen aus Wasser. Aber während man auf der Erde bekanntlich fünf Erd- oder Weltteile zählt, ist das Festland von Sitara in anderer, viel einfacherer Weise gegliedert. Es hängt zusammen. Es bildet nicht mehrere Kontinente, sondern nur einen einzigen, der in ein sehr tiefgelegenes, sümpfereiches Niederland und ein der Sonne kühn entgegenstrebendes Hochland zerfällt, welche beide durch einen schmäleren, steil aufwärtssteigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden sind. Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen und reißenden Tieren reich und allen von Meer zu Meer dahinbrausenden Stürmen preisgegeben. Man nennt es Ardistan. Ard heißt Erde, Scholle, niedriger Stoff, und bildlich bedeutet es das Wohlbehagen im geistlosen Schmutz und Staub, das rücksichtslose Trachten nach der Materie, den grausamen Vernichtungskampf gegen Alles, was nicht zum eigenen Selbst gehört oder nicht gewillt ist, ihm zu dienen. Ardistan ist also die Heimat der niedrigen, selbstsüchtigen Daseinsformen und, was sich auf seine höheren Bewohner bezieht, das Land der _Gewalt-und_Egoismusmenschen. Das Hochland hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und schön im Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur und Produkten des menschlichen Fleißes, ein Garten Eden, ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan. Dschinni heißt Genius, wohltätiger Geist, segensreiches unirdisches Wesen, und bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb nach Höherem, das Wohlgefallen am geistigen und seelischen Aufwärtssteigen, das fleißige Trachten nach Allem, was gut und was edel ist, und vor allen Dingen die Freude am Glücke des Nächsten, an der Wohlfahrt aller derer, welche der Liebe und der Hilfe bedürfen. Dschinnistan ist also das Territorium der wie die Berge aufwärtsstrebenden Humanität und Nächstenliebe, das einst verheißene Land der Edelmenschen. Tief unten herrscht über Ardistan ein Geschlecht von finster denkenden, selbstsüchtigen Tyrannen, deren oberstes Gesetz in strenger Kürze lautet: “D u s o l l st d e r T e u f e l d e i n e s N ä ch st e n s e i n, d a m i t d u d i r s e l b s t z u m E n g e l w e r d e st!” Und hoch oben regierte schon seit undenklicher Zeit über Dschinnistan eine Dynastie großherziger, echt königlich denkender Fürsten, deren oberstes Gesetz in beglückender Kürze lautet: “D u s o l l st d e r E n g e l d e i n e s N ä ch st e n s e i n, d a m i t d u n i ch t d i r s e l b st z u m T e u f e l w e r d e st!” Und solange dieses Dschinnistan, dieses Land der Edelmenschen, besteht, ist ein jeder Bürger und eine jede Bürgerin desselben verpflichtet gewesen, heimlich und ohne sich zu verraten der Schutzengel eines resp. einer Andern zu sein. Also in Dschinnistan Glück und Sonnenschein, dagegen in Ardistan ringsum eine tiefe, seelische Finsternis und der heimliche weil verbotene Jammer nach Befreiung aus dem Elende dieser Hölle! Ist es da ein Wunder, daß da unten im Tieflande eine immer größer werdende Sehnsucht nach dem Hochlande entstand? Daß die fortgeschrittenen unter den dortigen Seelen sich aus der Finsternis zu befreien und zu erlösen suchen? Millionen und Abermillionen fühlen sich in den Sümpfen von Ardistan wohl. Sie sind die Miasmen gewohnt. Sie wollen es nicht anders haben. Sie würden in der reinen Luft von Dschinistan nicht existieren können. Das sind nicht etwa nur die Aermsten und Geringsten, sondern grad auch die Mächtigsten, die Reichsten und Vornehmsten des Landes, die Pharisäer, die Sünder brauchen, um gerecht erscheinen zu können, die Vielbesitzenden, denen arme Leute nötig sind, um ihnen als Folie zu dienen, die Bequemen, welche Arbeiter haben müssen, um sich in Ruhe zu pflegen, und vor allen Dingen die Klugen, Pfiffigen, denen die Dummen, die Vertrauenden, die Ehrlichen unentbehrlich sind, um von ihnen ausgebeutet zu werden. Was würde aus allen diesen Bevorzugten werden, wenn es die Andern nicht mehr gäbe? Darum ist es Jedermann auf das allerstrengste verboten, Ardistan zu verlassen, um sich dem Druck des dortigen Gesetzes zu entziehen. Die schärfsten Strafen aber treffen den, der es wagt, nach dem Lande der Nächstenliebe und der Humanität, nach Dschinnistan zu flüchten. Die Grenze ist besetzt. Er kommt nicht durch. Er wird ergriffen und nach der “Geisterschmiede” geschafft, um dort gemartert und gepeinigt zu werden, bis er sich vom Schmerz gezwungen fühlt, Abbitte leistend in das verhaßte Joch zurückzukehren. Denn zwischen Ardistan und Dschinnistan liegt Märdistan, jener steil aufwärtssteigende Urwaldstreifen, durch dessen Baum- und Felsenlabyrinthe der unendlich gefahrvolle und beschwerliche Weg nach oben geht. Märd ist ein persisches Wort; es bedeutet “Mann”. Märdistan ist das Zwischenland, in welches sich nur “Männer” wagen dürfen; jeder Andere geht unbedingt zu Grunde. Der gefährlichste Teil dieses fast noch ganz unbekannten Gebietes ist der “Wald von Kulub”. Kulub ist ein arabisches Wort; es bedeutet die Mehrzahl des deutschen Wortes “Herz”. Also in den Tiefen des Herzens lauern die Feinde, die man, einen nach dem andern, zu besiegen hat, wenn man aus Ardistan nach Dschinnistan entkommen will. Und mitten in jenem Walde von Kulub ist jener Ort der Qual zu suchen, von dem es in “Babel und Bibel,” Seite 78 heißt: “Zu Märdistan, im Walde von Kulub, Liegt einsam, tief versteckt, die Geisterschmiede. Da schmieden Geister?” “Nein, man schmiedet sie! Der Stumm bringt sie geschleppt, um Mitternacht, Wenn Wetter leuchten, Tränenfluten stürzen. Der Haß wirft sich in grimmiger Lust auf sie. Der Neid schlägt tief ins Fleisch die Krallen ein. Die Reue schwitzt und jammert am Gebläse. Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug Im rußigen Gesicht, die Hand am Hammer. Da, jetzt, o Scheik, ergreifen dich die Zangen. Man stößt dich in den Brand; die Bälge knarren. Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus, Und Alles, was du hast und was du bist, Der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen, Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut, Gedanken und Gefühle, Alles, Alles Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert Bis in die weiße Glut — — –“ “Allah, Allah!” “Schrei nicht, o Scheik! Ich sage dir, schrei nicht! Denn wer da schreit, ist dieser Qual nicht wert, Wird weggeworfen in den Brack und Plunder Und muß dann wieder eingeschmolzen werden. Du aber willst zum Stahl, zur Klinge werden, Die in der Faust der Parakleten funkelt. Sei also still! Man reißt dich aus dem Feuer — — Man wirft dich auf den Amboß — — hält dich fest. Es knallt und prasselt dir in jeder Pore. Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister. Er spuckt sich in die Fäuste, greift dann zu. Hebt beiderhändig hoch den Riesenhammer — — — Die Schläge fallen. Jeder ist ein Mord, Ein Mord an dir. Du meinst, zermalmt zu werden. Die Fetzen fliegen heiß nach allen Seiten. Dein Ich wird dünner, kleiner, immer kleiner, Und dennoch mußt du wieder in das Feuer — — Und wieder — — immer wieder, bis der Schmied Den Geist erkennt, der aus der Höllenqual Und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt. Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile. Die kreischt und knirscht und frißt von dir hinweg Was noch — — –“ “Halt ein! Es ist genug!” “Es geht noch weiter, denn der Bohrer kommt, Der schraubt sich tief — — –“ “Sei still! Um Gottes willen!” u. s. w. u. s. w. So also sieht es in Märdistan aus, und so also geht es im Innern der “Geisterschmiede von Kulub” zu! Jeder Bewohner des Sternes Sitara kennt die Sage, daß die Seelen aller bedeutenden Menschen, die geboren werden sollen, vom Himmel herniederkommen. Engel und Teufel warten auf sie. Die Seele, welche das Glück hat, auf einen Engel zu treffen, wird in Dschinnistan geboren, und alle ihre Wege sind geebnet. Die arme Seele aber, welche einem Teufel in die Hände fällt, wird von ihm nach Ardistan geschleppt und in ein um so tieferes Elend geschleudert, je höher die Aufgabe ist, die ihr von oben mitgegeben wurde. Der Teufel will, sie soll zu Grunde gehen, und ruht weder bei Tag noch bei Nacht, aus dem zum Talent oder gar Genie Bestimmten einen möglichst verkommenen, verlorenen Menschen zu machen. Alles Sträuben und Aufbäumen hilft nichts; der Arme ist dem Untergange geweiht. Und selbst wenn es ihm gelänge, aus Ardistan zu entkommen, so würde er doch in Märdistan ergriffen und nach der Geisterschmiede geschleppt, um so lange gefoltert und gequält zu werden, bis er den letzten Rest von Mut verliert, zu widerstreben. Nur selten ist die Himmelskraft, die einer solchen nach Ardistan geschleuderten Seele mitgegeben wurde, so groß und so unerschöpflich, daß sie selbst die stärkste Pein der Geisterschmiede erträgt und dem Schmiede und seinen Gesellen “aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag ruhig dankbar froh entgegenlächelt”. Einer solchen Himmelstochter kann selbst dieser größte Schmerz nichts anhaben, sie ist gefeit; sie ist gerettet. Sie wird nicht vom Feuer vernichtet, sondern geläutert und gestählt. Und sind alle Schlacken von ihr abgesprungen, so hat der Schmied von ihr zu lassen, denn es ist nichts mehr an ihr, was nach Ardistan gehört. Darum kann weder Mensch noch Teufel sie mehr hindern, unter dem Zorngeschrei des ganzen Tieflandes nach Dschinnistan emporzusteigen, wo jeder Mensch der Engel seines Nächsten ist. — — — _________ II. Meine Kindheit. _____ Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers. Mein Vater war ein armer Weber. Meine Großväter waren beide tödlich verunglückt. Der Vater meiner Mutter daheim, der Vater meines Vaters aber im Walde. Er war zu Weihnacht nach dem Nachbardorf gegangen, um Brot zu holen. Die Nacht überraschte ihn. Er kam im tiefen Schneegestöber vom Wege ab und stürzte in die damals steile Schlucht des “Krähenholzes”, aus der er sich nicht herausarbeiten konnte. Seine Spuren wurden verweht. Man suchte lange Zeit vergeblich nach ihm. Erst als der Schnee verschwunden war, fand man seine Leiche und auch die Brote. Ueberhaupt ist Weihnacht für mich und die Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine verhängnisvolle Zeit gewesen. Geboren wurde ich am 25. Februar 1842 in dem damals sehr ärmlichen und kleinen, erzgebirgischen Weberstädtchen Ernsttal, welches jetzt mit dem etwas größeren Hohenstein verbunden ist. Wir waren neun Personen: mein Vater, meine Mutter, die beiden Großmütter, vier Schwestern und ich, der einzige Knabe. Die Mutter meiner Mutter scheuerte für die Leute und spann Watte. Es kam vor, daß sie sich mehr als 25 Pfennige pro Tag verdiente. Da wurde sie splendid und verteilte zwei Dreierbrötchen, die nur vier Pfennige kosteten, weil sie äußerst hart und altbacken, oft auch schimmelig waren, unter uns fünf Kinder. Sie war eine gute, fleißige, schweigsame Frau, die niemals klagte. Sie starb, wie man sagte, aus Altersschwäche. Die eigentliche Ursache ihres Todes aber war wohl das, was man gegenwärtig diskret als “Unterernährung” zu bezeichnen pflegt. Ueber meine andere Großmutter, die Mutter meines Vaters, habe ich etwas mehr zu sagen, doch nicht hier an dieser Stelle. Meine Mutter war eine Märtyrerin, eine Heilige, immer still, unendlich fleißig, trotz unserer eigenen Armut stets opferbereit für andere, vielleicht noch ärmere Leute. Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus ihrem Mund gehört. Sie war ein Segen für jeden, mit dem sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen für uns, ihre Kinder. Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch erfuhr davon. Doch des Abends, wenn sie, die Stricknadeln emsig rührend, beim kleinen, qualmenden Oellämpchen saß und sich unbeachtet wähnte, da kam es vor, daß ihr eine Träne in das Auge trat und, um schneller, als sie gekommen war, zu verschwinden, ihr über die Wange lief. Mit einer Bewegung der Fingerspitze wurde die Leidesspur sofort verwischt. Mein Vater war ein Mensch mit zwei Seelen. Die eine Seele unendlich weich, die andere tyrannisch, voll Uebermaß im Zorn, unfähig, sich zu beherrschen. Er besaß hervorragende Talente, die aber alle unentwickelt geblieben waren, der großen Armut wegen. Er hatte nie eine Schule besucht, doch aus eigenem Fleiße fließend lesen und sehr gut schreiben gelernt. Er besaß zu allem, was nötig war, ein angeborenes Geschick. Was seine Augen sahen, das machten seine Hände nach. Obgleich nur Weber, war er doch im stande, sich Rock und Hose selbst zu schneidern und seine Stiefel selbst zu besohlen. Er schnitzte und bildhauerte gern, und was er da fertig brachte, das hatte Schick und war gar nicht so übel. Als ich eine Geige haben mußte und er kein Geld auch zu dem Bogen hatte, fertigte er schnell selbst einen. Dem fehlte es zwar ein wenig an schöner Schweifung und Eleganz, aber er genügte vollständig, seine Bestimmung zu erfüllen. Vater war gern fleißig, doch befand sich sein Fleiß stets in Eile. Wozu ein anderer Weber vierzehn Stunden brauchte, dazu brauchte er nur zehn; die übrigen vier verwendete er dann zu Dingen, die ihm lieber waren. Während dieser zehn angestrengten Stunden war nicht mit ihm auszukommen; alles hatte zu schweigen; niemand durfte sich regen. Da waren wir in steter Angst, ihn zu erzürnen. Dann wehe uns! Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte “birkene Hans”, vor dem wir Kinder uns besonders scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung im großen “Ofentopfe” einzuweichen, um ihn elastischer und also eindringlicher zu machen. Uebrigens, wenn die zehn Stunden vorüber waren, so hatten wir nichts mehr zu befürchten; wir atmeten alle auf, und Vaters andere Seele lächelte uns an. Er konnte dann geradezu herzgewinnend sein, doch hatten wir selbst in den heitersten und friedlichsten Augenblicken das Gefühl, daß wir auf vulkanischem Boden standen und von Moment zu Moment einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man den Strick oder den “Hans” so lange, bis Vater nicht mehr konnte. Unsere älteste Schwester, ein hochbegabtes, liebes, heiteres, fleißiges Mädchen, wurde sogar noch als Braut mit Ohrfeigen gezüchtigt, weil sie von einem Spaziergange mit ihrem Bräutigam etwas später nach Hause kam, als ihr erlaubt worden war. Hier habe ich eine Pause zu machen, um mir eine ernste, wichtigere Bemerkung zu gestatten. Ich schreibe dieses Buch nicht etwa um meiner Gegner willen, etwa um ihnen zu antworten oder mich gegen sie zu verteidigen, sondern ich bin der Meinung, daß durch die Art und Weise, in der man mich umstürmt, jede Antwort und jede Verteidigung ausgeschlossen wird. Ich schreibe dieses Buch auch nicht für meine Freunde, denn die kennen, verstehen und begreifen mich, so daß ich nicht erst nötig habe, ihnen Aufklärung über mich zu geben. Ich schreibe es vielmehr nur u m m e i n e r s e l b st w i l l e n, um über mich klar zu werden und mir über das, was ich bisher tat und ferner noch zu tun gedenke, Rechenschaft abzulegen. Ich schreibe also, um zu beichten. Aber ich beichte nicht etwa den Menschen, denen es ja auch gar nicht einfällt, mir ihre Sünden einzugestehen, sondern ich beichte meinem Herrgott und mir selbst, und was diese beiden sagen, wenn ich geendet habe, wird für mich maßgebend sein. Es sind für mich also nicht gewöhnliche, sondern heilige Stunden, in denen ich die vorliegenden Bogen schreibe. Ich spreche hier nicht nur für dieses, sondern auch für jenes Leben, an das ich glaube und nach dem ich mich sehne. Indem ich hier beichte, verleihe ich mir die Gestalt und das Wesen, als das ich einst nach dem Tode existieren werde. Da kann es mir wahrlich, wahrlich gleichgültig sein, was man in diesem oder in jenem Lager zu diesem meinem Buche sagt. Ich lege es in ganz andere, in die richtigen Hände, nämlich in die Hände des Geschickes, der Alles wissenden Vorsehung, bei der es weder Gunst noch Ungunst, sondern nur allein Gerechtigkeit und Wahrheit gibt. Da läßt sich nichts verschweigen und nichts beschönigen. Da muß man Alles ehrlich sagen und ehrlich bekennen, wie es war und wie es ist, erscheine es auch noch so pietätlos und tue es auch noch so weh. Man hat den Ausdruck “Karl May-Problem” erfunden. Wohlan, ich nehme ihn an und lasse ihn gelten. Dieses Problem wird mir keiner von allen denen lösen, welche meine Bücher nicht gelesen oder nicht begriffen haben und trotzdem über sie urteilen. Das Karl May-Problem ist das Menschheitsproblem, aus dem großen, alles umfassenden Plural in den Singular, in die einzelne Individualität transponiert. Und genauso, wie dieses Menschheitsproblem zu lösen ist, ist auch das Karl May-Problem zu lösen, anders nicht! Wer sich unfähig zeigt, das Karl May-Rätsel in befriedigender, humaner Weise zu lösen, der mag um Gottes Willen die schwachen Hände und die unzureichenden Gedanken davon lassen, über sich selbst hinaus zu greifen und sich mit schwierigen Menschheitsfragen zu befassen! Der Schlüssel zu all diesen Rätseln ist längst vorhanden. Die christliche Kirche nennt ihn “Erbsünde”. Die Vorväter und Vormütter kennen, heißt, die Kinder und Enkel begreifen, und nur der Humanität, der wahren edelmenschlichen Gesinnung ist es gegeben, in Betracht der Vorfahren wahr und ehrlich zu sein, um auch gegen die Nachkommen wahr und ehrlich sein zu können. Den Einfluß der Verstorbenen auf ihre Nachlebenden an das Tageslicht zu ziehen, ist rechts eine Seligkeit und links eine Erlösung für beide Teile, und so habe auch ich die meinen genauso zu zeichnen, wie sie in Wirklichkeit waren, mag man dies für unkindlich halten oder nicht. Ich habe nicht nur gegen sie und mich, sondern auch gegen meine Mitmenschen wahr zu sein. Vielleicht kann mancher aus unserem Beispiele lernen, in seinem Falle das Richtige zu tun. — — Mutter hatte ganz unerwartet von einem entfernten Verwandten ein Haus geerbt und einige kleine, leinene Geldbeutel dazu. Einer dieser Geldbeutel enthielt lauter Zweipfenniger, ein anderer lauter Dreipfenniger, ein dritter lauter Groschen. In einem vierten steckte ein ganzes Schock Fünfzigpfenniger, und im fünften und letzten fanden sich zehn alte Schafhäuselsechser, zehn Achtgroschenstücke, fünf Gulden und vier Taler vor. Das war ja ein Vermögen! Das erschien der Armut fast wie eine Million! Freilich war das Haus nur drei schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut, dafür aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben unter dem First einen Taubenschlag, was bei andern Häusern bekanntlich nicht immer der Fall zu sein pflegt. Großmutter, die Mutter meines Vaters, zog in das Parterre, wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und die Haustür gab. Dahinter lag ein Raum mit einer alten Wäscherolle, die für zwei Pfennige pro Stunde an andere Leute vermietet wurde. Es gab glückliche Sonnabende, an denen diese Rolle zehn, zwölf, ja sogar vierzehn Pfennige einbrachte. Das förderte die Wohlhabenheit ganz bedeutend. Im ersten Stock wohnten die Eltern mit uns. Da stand der Webstuhl mit dem Spulrad. Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie von Mäusen und einigen größeren Nagetieren, die eigentlich im Taubenschlage wohnten und des Nachts nur kamen, uns zu besuchen. Es gab auch einen Keller, doch war er immer leer. Einmal standen einige Säcke Kartoffeln darin, die gehörten aber nicht uns, sondern einem Nachbar, der keinen Keller hatte. Großmutter meinte, daß es viel besser wäre, wenn der Keller ihm und die Kartoffeln uns gehörten. Der Hof war grad so groß, daß wir fünf Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu stoßen. Hieran grenzte der Garten, in dem es einen Holunderstrauch, einen Apfel-, einen Pflaumenbaum und einen Wassertümpel gab, den wir als “Teich” bezeichneten. Der Hollunder lieferte uns den Tee zum Schwitzen, wenn wir uns erkältet hatten, hielt aber nicht sehr lange vor, denn wenn das Eine sich erkältete, fingen auch alle Andern an, zu husten und wollten mit ihm schwitzen. Der Apfelbaum blühte immer sehr schön und sehr reichlich; da wir aber nur zu wohl wußten, daß die Aepfel gleich nach der Blüte am besten schmecken, so war er meist schon Anfang Juni abgeerntet. Die Pflaumen aber waren uns heilig. Großmutter aß sie gar zu gern. Sie wurden täglich gezählt, und niemand wagte es, sich an ihnen zu vergreifen. Wir Kinder bekamen doch mehr, viel mehr davon, als uns eigentlich zustand. Was den “Teich” betrifft, so war er sehr reich belebt, doch leider nicht mit Fischen, sondern mit Fröschen. Die kannten wir alle einzeln, sogar an der Stimme. Es waren immer so zwischen zehn und fünfzehn. Wir fütterten sie mit Regenwürmern, Fliegen, Käfern und allerlei andern guten Dingen, die wir aus gastronomischen oder ästhetischen Gründen nicht selbst genießen konnten, und sie waren uns auch herzlich dankbar dafür. Sie kannten uns. Sie kamen an das Ufer, wenn wir uns ihnen näherten. Einige ließen sich sogar ergreifen und streicheln. Der eigentliche Dank aber erklang uns des Abends, wenn wir am Einschlafen waren. Keine Sennerin kann sich mehr über ihre Zither freuen als wir über unsere Frösche. Wir wußten ganz genau, welcher es war, der sich hören leß [sic], ob der Arthur, der Paul oder Fritz, und wenn sie gar zu duettieren oder im Chor zu singen begannen, so sprangen wir aus den Federn und öffneten die Fenster, um mitzuquaken, bis Mutter oder Großmutter kam und uns dahin zurückbrachte, wohin wir jetzt gehörten. Leider aber kam einst ein sogenannter Bezirksarzt in das Städtchen, um sogenannte gesundheitliche Untersuchungen anzustellen. Der hatte überall etwas auszusetzen. Dieser ebenso sonderbare wie gefühllose Mann schlug, als er unsern Garten und unsern schönen Tümpel sah, die Hände über dem Kopf zusammen und erklärte, daß dieser Pest- und Cholerapfuhl sofort verschwinden müsse. Am nächsten Tage brachte der Polizist Eberhard einen Zettel des Herrn Stadtrichters Layritz des Inhaltes, daß binnen jetzt und drei Tagen der Tümpel auszufüllen und die Froschkolonie zu töten sei, bei fünfzehn “Guten Groschen” Strafe. Wir Kinder waren empört. Unsere Frösche umbringen! Ja, wenn der Herr Stadtrichter Layritz einer gewesen wäre, dann herzlich, herzlich gern! Wir hielten Rat und was wir beschlossen, wurde ausgeführt. Der Tümpel wurde so weit ausgeschöpft, daß wir die Frösche fassen konnten. Sie wurden in den großen Deckelkorb getan und dann hinaus hinter das Schießhaus nach dem großen Zechenteich getragen, Großmutter voran, wir hinterher. Dort wurde jeder einzeln herausgenommen, geliebkost, gestreichelt und in das Wasser gelassen. Wieviel Seufzer dabei laut geworden, wieviel Tränen dabei geflossen und wieviel vernichtende Urteile dabei gegen den sogenannten Bezirksarzt gefällt worden sind, das ist jetzt, nach über sechzig Jahren, wohl kaum mehr festzustellen. Doch weiß ich noch ganz bestimmt, daß Großmutter, um dem ungeheuern Schmerz ein Ende zu machen, uns die Versicherung gab, ein jedes von uns werde genau nach zehn Jahren ein dreimal größeres Haus mit einem fünfmal größeren Garten erben, in dem es einen zehnmal größeren Teich mit zwanzigmal größeren Fröschen gebe. Das brachte in unserer Stimmung eine ebenso plötzliche wie angenehme Aenderung hervor. Wir wanderten mit der Großmutter und dem leeren Deckelkorb vergnügt nach Hause. Das geschah in der Zeit, als ich nicht mehr blind war und schon laufen konnte. Ich war weder blind geboren noch mit irgendeinem vererbten körperlichen Fehler behaftet. Vater und Mutter waren durchaus kräftige, gesunde Naturen. Sie sind bis zu ihrem Tode niemals krank gewesen. Mich atavistischer Schwachheiten zu zeihen, ist eine Böswilligkeit, die ich mir unbedingt verbitten muß. Daß ich kurz nach der Geburt sehr schwer erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre siechte, war nicht eine Folge der Vererbung, sondern der rein örtlichen Verhältnisse, der Armut, des Unverstandes und der verderblichen Medikasterei, der ich zum Opfer fiel. Sobald ich in die Hand eines tüchtigen Arztes kam, kehrte mir das Augenlicht wieder, und ich wurde ein höchst kräftiger und widerstandsfähiger Junge, der stark genug war, es mit jedem andern aufzunehmen. Doch ehe ich über mich selbst berichte, habe ich noch für einige Zeit bei dem Milieu zu bleiben, in dem ich meine erste Kindheit verlebte. Mutter hatte mit dem Hause auch die auf ihm stehenden Schulden geerbt. Die waren zu verzinsen. Hieraus ergab sich, daß wir eben nur mietfrei wohnten, und auch das nicht einmal ganz. Mutter war sparsam, Vater in seiner Weise auch. Aber wie er in allem maßlos war, in seiner Liebe, seinem Zorne, seinem Fleiße, seinem Lobe, seinem Tadel, so auch hier in der Beurteilung der kleinen Erbschaft, die nur ein Ansporn sein konnte, weiter zu sparen und das Häuschen von Schulden frei zu machen. Aber wenn er auch nicht geradezu glaubte, plötzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch an, jetzt zu einer andern Lebensführung übergehen zu dürfen. Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben lang hinter dem Webstuhl abzurackern. Er hatte ja nun ein Haus, und er hatte Geld, viel Geld. Er konnte zu etwas anderem, besserem greifen, was bequemer war und mehr lohnte als die Weberei. Während er, nicht schlafen könnend, im Bette lag und darüber nachdachte, was zu ergreifen sei, hörte er die Ratten über sich im leeren Taubenschlag rumoren. Dieses Rumoren wiederholte sich von Tag zu Tag, und so entstand, in der jedem Psychologen wohlbekannten Weise in ihm der Entschluß, die Ratten zu vertreiben und Tauben anzuschaffen. Er wollte Taubenhändler werden, obgleich er von diesem Fache nicht das geringste verstand. Er hatte gehört, daß da sehr viel Geld zu verdienen sei, und war der Meinung, daß er auch ohne die nötigen Sonderkenntnisse genug Intelligenz besitze, jeden Händler zu überlisten. Die Ratten wurden vertrieben und Tauben angeschafft. Leider war diese Anschaffung nicht ohne Geldkosten zu bewerkstelligen. Mutter mußte einen ihrer Beutel opfern, vielleicht gar zwei. Sie tat es nur mit Widerstreben. Sie fand an den Tauben nicht dasselbe Wohlgefallen, welches wir Kinder an ihnen fanden. Ammeisten Vergnügen machte es uns, wenn wir beobachteten, wie die lieben Tierchen ihre zarten Kleider veränderten. Vater hatte zwei Paar sehr teure “Blaustriche” gekauft. Er brachte sie heim und zeigte sie uns. Er hoffte, wenigstens drei Taler an ihnen zu verdienen. Einige Tage später lagen die blauen Federn am Boden: sie waren nicht echt, sondern nur angeklebt gewesen. Die kostbaren “Blaustriche” entpuppten sich als ganz wertlose Feldweißlinge. Vater erwarb einen sehr schönen, jungen, grauen Trommeltäuberich für einen Taler fünfzehn gute Groschen. Nach kurzer Zeit stellte sich heraus, daß der Täuberich altersblind war. Er ging nicht aus dem Schlage; sein Wert war gleich Null. Solche und ähnliche Fälle mehrten sich. Die Folge davon war, daß Mutter noch einen dritten Beutel opfern mußte, um den Taubenhandel in besseren Schwung zu bringen. Freilich gab sich auch Vater große Mühe. Er feierte nicht. Er besuchte alle Markte, alle Gasthöfe und Schankwirtschaften, um zu kaufen oder Käufer zu finden. Bald kaufte er Erbsen; bald kaufte er Wicken, die er “halb geschenkt” erhalten hatte. Er war immer unterwegs, von einem Dorf zum andern, von einem Bauern zum andern. Er brachte immerfort Käse, Eier und Butter heim, die wir gar nicht brauchten. Er hatte sie teuer gekauft, um sich die Bauersfrauen handelsgeneigt zu machen, und wurde sie nur mit Mühe und Verlusten wieder los. Dieses unstäte [sic], unnützliche Leben förderte nicht, sondern fraß das Glück des Hauses; es fraß sogar auch noch die übrigen Leinenbeutel. Mutter gab gute Worte, vergeblich. Sie härmte sich und hielt still, bis es Sünde gewesen wäre, weiter zu tragen. Da faßte sie einen Entschluß und ging zum Herrn Stadtrichter Layritz, der sich in diesem Falle viel, viel vernünftiger als damals gegen unsere Frösche zeigte. Sie stellte ihm ihre Lage vor. Sie sagte ihm, daß sie zwar ihren Mann sehr, sehr lieb habe, aber vor allen Dingen auch auf das Wohl ihrer Kinder achten müsse. Sie verriet ihm, daß sie außer den bisher erwähnten Beuteln noch einen besitze, den sie ihrem Manne noch nicht gezeigt, sondern verheimlicht habe. Der Herr Stadtrichter solle doch die Güte haben, ihr zu sagen, wie sie dieses Geld anlegen könne, um sich und ihre Kinder zu sichern. Sie legte ihm den Beutel vor. Er öffnete ihn und zählte. Es waren sechzig harte, blanke, wohlgeputzte Taler. Darob großes Erstaunen! Der Herr Stadtrichter Layritz dachte nach; dann sagte er: “Meine liebe Frau May, ich kenne Sie. Sie sind eine brave Frau, und ich stehe für Sie ein. Unsere Hebamme ist alt; wir brauchen eine jüngere. Sie gehen nach Dresden und werden für dieses Ihr Geld Hebamme. Ich werde das besorgen! Kommen Sie mit der ersten Zensur zurück, so stellen wir Sie sofort an. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Kommen Sie aber mit einer niedrigeren Zensur, so können wir Sie nicht brauchen. Jetzt aber gehen Sie heim, und sagen Sie Ihrem Mann, er solle sofort einmal zu mir kommen; ich hätte mit ihm zu reden!” Das geschah. Mutter ging nach Dresden. Sie kam mit der ersten Zensur zurück, und der Herr Stadtrichter Layritz hielt Wort; sie wurde angestellt. Während ihrer Abwesenheit führte Vater mit Großmutter das Haus. Das war eine schwere Zeit, eine Leidenszeit für uns alle. Die Blattern brachen aus. Wir Kinder lagen alle krank. Großmutter tat fast über Menschenkraft. Vater aber auch. Bei einer der Schwestern hatte sich der Blatternkranke Kopf in einen unförmigen Klumpen verwandelt. Stirn, Ohren, Augen, Nase, Mund und Kinn waren vollständig verschwunden. Der Arzt mußte durch Messerschnitte nach den Lippen suchen, um der Kranken wenigstens ein wenig Milch einflößen zu können. Sie lebt heute noch, ist die heiterste von uns allen und niemals wieder krank gewesen. Man sieht noch jetzt die Narben, die ihr der Arzt geschnitten hat, als er nach dem Mund suchte. Diese schwere Zeit war, als Mutter wieder kam, noch nicht ganz vorüber, mir aber brachte ihr Aufenthalt in Dresden großes Glück. Sie hatte sich durch ihren Fleiß und ihr stilles, tiefernstes Wesen das Wohlwollen der beiden Professoren Grenzer und Haase erworben und ihnen von mir, ihrem elenden, erblindeten und seelisch doch so regsamen Knaben erzählt. Sie war aufgefordert worden, mich nach Dresden zu bringen, um von den beiden Herren behandelt zu werden. Das geschah nun jetzt, und zwar mit ganz überraschendem Erfolge. Ich lernte sehen und kehrte, auch im übrigen gesundend, heim. Aber das Alles hatte große, große Opfer gefordert, freilich nur für unsere armen Verhältnisse groß. Wir mußten um all der nötigen Ausgaben willen das Haus verkaufen, und das wenige, was von dem Kaufpreise unser war, reichte kaum zu, das Nötigste zu decken. Wir zogen zur Miete. — — Und nun zu der Person, die in seelischer Beziehung den tiefsten und größten Einfluß auf meine Entwicklung ausgeübt hat. Während die Mutter unserer Mutter in Hohenstein geboren war und darum von uns die “Hohensteiner Großmutter” genannt wurde, stammte die Mutter meines Vaters aus Ernsttal und mußte sich darum als “Ernsttaler Großmutter” bezeichnen lassen. Diese Letztere war ein ganz eigenartiges, tiefgründiges, edles und, fast möchte ich sagen, geheimnisvolles Wesen. Sie war mir von Jugend auf ein herzliebes, beglückendes Rätsel, aus dessen Tiefen ich schöpfen durfte, ohne es jemals ausschöpfen zu können. Woher hatte sie das Alles? Sehr einfach: Sie war Seele, nichts als Seele, und die heutige Psychologie weiß, was das zu bedeuten hat. Sie war in der tiefsten Not geboren und im tiefsten Leide aufgewachsen; darum sah sie Alles mit hoffenden, sich nach Erlösung sehnenden Augen an. Und wer in der richtigen Weise zu hoffen und zu glauben vermag, der hat den Erdenjammer hinter sich geschoben und vor sich nur noch Sonnenschein und Gottesfrieden liegen. Sie war die Tochter bitter armer Leute, hatte die Mutter früh verloren und einen Vater zu ernähren, der weder stehen noch liegen konnte und bis zu seinem Tode viele Jahre lang an einen alten, ledernen Lehnstuhl gefesselt und gebunden war. Sie pflegte ihn mit unendlicher, zu Tränen rührender Aufopferung. Die Armut erlaubte ihr nur das billigste Wohnen. Das Fenster ihrer Stube zeigte nur den Gottesacker, weiter nichts. Sie kannte alle Gräber, und sie bedachte für sich und ihren Vater nur den einen Weg, aus ihrer dürftigen Sterbekammer im Sarge nach dem Kirchhofe hinüber. Sie hatte einen Geliebten, der es brav und ehrlich mit ihr meinte; aber sie verzichtete. Sie wollte nur ganz allein dem Vater gehören, und der brave Bursche gab ihr Recht. Er sagte nichts, aber er wartete und blieb ihr treu. Droben auf dem Oberboden stand eine alte Kiste mit noch älteren Büchern. Das waren in Leder gebundene Erbstücke verschiedenen Inhaltes, sowohl geistlich als auch weltlich. Es ging die Sage, daß es in der Familie, als sie noch wohlhabend war, Geistliche, Gelehrte und weitgereiste Herren gegeben habe, an welche diese Bücher noch heut erinnerten. Vater und Tochter konnten lesen; sie hatten es beide von selbst gelernt. Des Abends, nach des Tages Last und Arbeit, wurde das Reifröckchen *) _______ *) Kleines Oellämpchen. angebrannt, und eines von Beiden las vor. In den Pausen wurde das Gelesene besprochen. Man hatte die Bücher nahe schon zwanzigmal durch, fing aber immer wieder von vorn an, weil sich dann immer neue Gedanken fanden, die besser, schöner und auch richtiger zu sein schienen als die früheren. Am meisten gelesen wurde ein ziemlich großer und schon sehr abgegriffener Band, dessen Titel lautete: Der Hakawati d.i. der Märchenerzähler in Asia, Africa, Turkia, Arabia, Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung, explanatio und interpretatio auch viele Vergleychung und Figürlich seyn von Christianus Kretzschmann der aus Germania war. Gedruckt von Wilhelmus Candidus A. D: M. D. C. V. * * * Dieses Buch enthielt eine Menge bedeutungsvoller orientalischer Märchen, die sich bisher in keiner andern Märchensammlung befanden. Großmutter kannte diese Märchen alle. Sie erzählte sie gewöhnlich wörtlich gleichlautend; aber in gewissen Fällen, in denen sie es für nötig hielt, gab sie Aenderungen und Anwendungen, aus denen zu ersehen war, daß sie den Geist dessen, was sie erzählte, sehr wohl kannte und ihn genau wirken ließ. Ihr Lieblingsmärchen war das Märchen von Sitara; es wurde später auch das meinige, weil es die Geographie und Ethnologie unserer Erde und ihrer Bewohner rein ethisch behandelt. Doch dies hier nur, um anzudeuten. Der Vater starb infolge einer Reihe von Blutstürzen. Die Pflege war so anstrengend, daß auch die Tochter dem Tode nahe kam, doch überstand sie es. Nach verflossener Trauerzeit kam May, der treue Geliebte, und führte sie heim. Nun endlich, endlich wirklich glücklich! Es war eine Ehe, wie Gott sie will. Zwei Kinder wurden geboren, mein Vater und vor ihm eine Schwester, welche später einen schweren Fall tat und an den Folgen desselben verkrüppelte. Man sieht, daß es an Heimsuchungen, oder sagen wir Prüfungen, bei uns nicht fehlte. Und ebenso sieht man, daß ich nichts verschweige. Es darf nicht meine Absicht sein, das Häßliche schön zu malen. Aber kurz nach der Geburt des zweiten Kindes trat jenes unglückliche Weihnachtsereignis ein, welches ich bereits erzählte. Der brave junge Mann stürzte des Nachts mit den Broten in die tiefe Schneeschlucht und erfror. Großmutter hatte mit ihren beiden Kindern an den Christtagen nichts zu essen und erfuhr erst nach langer Zeit der Qual, daß und in welch schrecklicher Weise sie den geliebten Mann verloren hatte. Hierauf kamen Jahre der Trauer und dann die schwere Zeit der napoleonischen Kriege und der Hungersnot. Es war Alles verwüstet. Es gab nirgends Arbeit. Die Teuerung wuchs; der Hunger wütete. Ein armer Handwerksbursche kam, um zu betteln. Großmutter konnte ihm nichts geben. Sie hatte für sich und ihre Kinder selbst keinen einzigen Bissen Brot. Er sah ihr stilles Weinen. Das erbarmte ihn. Er ging fort und kam nach über einer Stunde wieder. Er schüttete vor ihr aus, was er bekommen hatte, Stücke Brot, ein Dutzend Kartoffeln, eine Kohlrübe, einen kleinen, sehr ehrwürdigen Käse, eine Düte [sic] Mehl, eine Düte [sic] Graupen, ein Scheibchen Wurst und ein winziges Eckchen Hammeltalg. Dann ging er schnell fort, um sich ihrem Dank zu entziehen. Sie hat ihn nie wieder gesehen; Einer aber kennt ihn gewiß und wird es ihm nicht vergessen. Dieser Eine schickte auch noch andere, bessere Hilfe. Einem abseits wohnenden Oberförster, den man als ebenso wohlhabend, wie edeldenkend kannte, war die Frau gestorben. Sie hatte ihm eine sehr reichliche Anzahl Kinder hinterlassen. Er wünschte Großmutter zur Führung seiner Wirtschaft zu haben. Sie hätte in dieser Zeit der Not nur zu gern eingewilligt, erklärte aber, sich von ihren eigenen Kindern unmöglich trennen zu können, selbst wenn sie einen Platz, sie unterzubringen, hätte. Der brave Mann besann sich nicht lange. Er erklärte ihr, es sei ihm gleich, ob sechs oder acht Kinder bei ihm äßen; sie würden alle satt. Sie solle nur kommen, doch nicht ohne sie, sondern mit ihnen. Das war Rettung in der höchsten Not! Der Aufenthalt in dem stillen, einsamen Forsthause tat der Mutter und den Kindern wohl. Sie gesundeten und erstarkten in der besseren Ernährung. Der Oberförster sah, wie Großmutter sich abmühte, ihm dankbar zu sein und seine Zufriedenheit zu erringen. Sie arbeitete fast über ihre Kraft, fühlte sich aber wohl dabei. Er beobachtete das im Stillen und belohnte sie dadurch, daß er ihren Kindern in jeder Beziehung dasselbe gewährte, was die seinen bekamen. Freilich war er Aristokrat und eigentlich stolz. Er aß mit seiner Schwiegermutter allein. Großmutter war nur Dienstbote, doch aß sie nicht in der Gesinde- sondern mit in der Kinderstube. Als er aber nach längerer Zeit einen Einblick in ihr eigenartiges Seelenleben erhielt, nahm er sich ihrer auch in innerer Beziehung an. Er erleichterte ihr die große Arbeitslast, erlaubte ihr, ihm und seiner Schwiegermutter des Abends aus ihren Büchern vorzulesen, und gestattete ihr, dann auch in seine eigenen Bücher zu schauen. Wie gern sie das tat! Und er hatte so gute, so nützliche Bücher! Den Kindern wurde in vernünftiger Weise Freiheit gewährt. Sie tollten im Walde herum und holten sich kräftige Glieder und rote Wangen. Der kleine May war der jüngste und kleinste von allen, aber er tat wacker mit. Und er paßte auf; er lernte und merkte. Er wollte Alles wissen. Er frug nach jedem Gegenstand, den er noch nicht kannte. Bald wußte er die Namen aller Pflanzen, aller Raupen und Würmer, aller Käfer und Schmetterlinge, die es in seinem Bereiche gab. Er trachtete, ihren Charakter, ihre Eigenschaften und Gewohnheiten kennen zu lernen. Diese Wißbegierde erwarb ihm die besondere Zuneigung des Oberförsters, der sich sogar herbeiließ, den Jungen mit sich gehen zu lassen. Ich muß das erwähnen, um Späteres erklärlich zu machen. Der nachherige Rückfall aus dieser sonnenklaren, hoffnungsreichen Jugendzeit in die frühere Not und Erbärmlichkeit konnte auf den Knaben doch nicht glücklich wirken. In dieser Zeit war es, daß Großmutter während des Mittagessens plötzlich vom Stuhle fiel und tot zu Boden sank. Das ganze Haus geriet in Aufregung. Der Arzt wurde geholt. Er konstatierte Herzschlag; Großmutter sei tot und nach drei Tagen zu begraben. Aber sie lebte. Doch konnte sie kein Glied bewegen, nicht einmal die Lippen oder die nicht ganz geschlossenen Augenlider. Sie sah und hörte alles, das Weinen, das Jammern um sie. Sie verstand jedes Wort, welches gesprochen wurde. Sie sah und hörte den Tischler, welcher kam, um ihr den Sarg anzumessen. Als er fertig war, wurde sie hineingelegt und in eine kalte Kammer gestellt. Am Begräbnistage bahrte man sie im Hausflur auf. Die Leichenträger kamen, der Pfarrer und der Kantor mit der Kurrende. Die Familie begann, Abschied von der Scheintoten zu nehmen. Man denke sich deren Qual! Drei Tage und drei Nächte lang hatte sie sich alle mögliche Mühe gegeben, durch irgendeine Bewegung zu zeigen, daß sie noch lebe — — vergeblich! Jetzt kam der letzte Augenblick, an dem noch Rettung möglich war. Hatte man den Sarg einmal geschlossen, so gab es keine Hoffnung mehr. Sie erzählte später, daß sie sich in ihrer fürchterlichen Todesangst ganz unmenschliche Mühe gegeben habe, doch wenigstens mit dem Finger zu wackeln, als einer um den andern kam, um ihre Hand zum letzten Male zu ergreifen. So tat auch das jüngste Mädchen des Oberförsters, welches besonders sehr an Großmutter gehangen hatte. Da schrie das Kind erschrocken aus: “Sie hat meine Hand angegriffen; sie will mich festhalten!” Und richtig, man sah, daß die scheinbar Verstorbene ihre Hand in langsamer Bewegung abwechselnd öffnete und schloß. Von einem Begräbnisse konnte nun selbstverständlich nicht mehr die Rede sein. Es wurden andere Aerzte geholt; Großmutter war gerettet. Aber von da an war ihre Lebensführung noch ernster und erhobener als vorher. Sie sprach nur selten von dem, was sie in jenen unvergeßlichen drei Tagen auf der Schwelle zwischen Tod und Leben gedacht und empfunden hatte. Es muß schrecklich gewesen sein. Aber auch hierdurch ist ihr Glaube an Gott nur noch fester und ihr Vertrauen zu ihm nur noch tiefer geworden. Wie sie nur scheintot gewesen war, so hielt sie von nun an auch den sogenannten wirklichen Tod nur für Schein und suchte jahrelang nach dem richtigen Gedanken, dies zu erklären und zu beweisen. Ihr und diesem ihrem Scheintode habe ich es zu verdanken, daß ich überhaupt nur an das Leben glaube, nicht aber an den Tod. Dieses Ereignis war innerlich noch nicht ganz überwunden, als Großmutter infolge der Versetzung und Wiederverheiratung des Oberförsters mit ihren beiden Kindern in ihre früheren Verhältnisse zurückgestoßen wurde. Sie kehrte nach Ernsttal zurück und hatte nun wieder jeden Pfennig direkt zu verdienen, den sie brauchte. Ein braver Mann, der Vogel hieß und auch Weber war, hielt um ihre Hand an. Jedermann redete ihr zu, sie müsse ihren Kindern doch einen Vater geben; das sei sie ihnen schuldig. Sie tat es und hatte es nicht zu bereuen; war aber leider schon nach kurzer Zeit wieder Witwe. Er starb und hinterließ ihr alles, was er besessen hatte, die Armut und den Ruf eines braven, fleißigen Mannes. Hierauf wurde es still und stiller um sie. Sie tat ihr Mädchen zu einer Nähterin und ihren Knaben zu einem Weber, der ihn von früh bis abends am Spulrad beschäftigte. Denn daß der Junge nun weiter nichts als nur ein Weber zu werden hatte, das verstand sich ganz von selbst. Die Lust dazu war ihm freilich während seines Aufenthaltes im Forsthause vollständig vergangen; er hatte sich schon ganz anderes gedacht, und es ist gewiß erklärlich, daß er später, nachdem er in dieses ungeliebte Handwerk hineingezwungen worden war, auf die Idee kam, sich durch den Taubenhandel wieder daraus zu befreien. Doch tat er sowohl als Knabe wie auch als Jüngling seine Pflicht. Er war fleißig und wurde ein tüchtiger Weber, dessen Ware so viel Sauberkeit und Akkuratesse zeigte, daß jeder Unternehmer ihn gern für sich arbeiten ließ. In seinen Freistunden aber strich er durch Feld und Flur, um zu botanisieren und alle die Kenntnisse festzuhalten, die er sich bei dem Oberförster erworben hatte Darum machte es ihm große Freude, daß sich unter der oben erwähnten Erbschaft unserer Mutter auch einige alte, hochinteressante Bücher befanden, deren Inhalt ihm bei diesen seinen Freibeschäftigungen von großem Nutzen war. Ich denke da besonders an einen großen, starken Folioband, der gegen tausend Seiten zählte und folgenden Titel hatte: Kräutterbuch Deß hochgelehrten vnnd weltberühmten Herrn Dr. Petri Andreae Matthioli. Jetzt widerumb mit vielen schönen newen Figuren / auch nützlichen Artzeneyen / vnnd andern guten Stücken / zum dritten Mal auss sondern Fleiß gemehret vnnd verferdigt / Durch Joachimum Camerarium, der löblichen Reichsstatt Nürnberg Medicum, Doct. Sampt dreien wohlgeordneten nützlichen Registern der Kräutter lateinische und deutsche Namen / vund dann die Artzeneyen / dazu dieselbigen zugebrauchen jnnhaltendt. Beneben genugsamen Bericht / von den Destillier vund Brennöfen. Mit besonderem Röm. Kais. Majest. Priviligio, in keinerley Format nachzudrucken. Gedruckt zu Franckfurt am Mayn M. D. C. * * * Es verstand sich ganz von selbst, daß Vater dieses Buch sofort hernahm und fleißig durchstudierte. Es enthielt sogar mehr, als der Titel versprach. So waren die Namen der Pflanzen oft auch französisch, englisch, russisch, böhmisch, italienisch und sogar arabisch angegeben, was später besonders mir ganz außerordentlich vorwärts half. Auch Vater ging von Seite zu Seite dieses köstlichen Buchs, von Pflanze zu Pflanze. Er lernte viel, viel mehr zu dem, was er bereits wußte. Nicht nur die Kenntnis der Gewächse an sich, sondern auch ihrer ernährenden und technischen Eigenschaften und ihrer Heilwirkungen. Die Vorfahren hatten diese Wirkungen geprüft und den Band mit sehr vielen Randbemerkungen versehen, welche sagten, wie diese Prüfungen ausgefallen waren. Dieses Buch wurde mir später eine Quelle der reinsten, nützlichsten Freuden, und ich kann wohl sagen, daß Vater mich dabei vortrefflich unterstützte. Ein anderes dieser Bücher war eine Sammlung biblischer Holzschnitte, wahrscheinlich aus der ersten Zeit der xylographierenden Kunst. Ich besitze es, ganz ebenso wie das Kräuterbuch, noch heut. Es enthält sehr viele und ganz vortreffliche Bilder; einige fehlen leider. Das erste ist Moses und das letzte ist das Tier aus dem elften Kapitel der Offenbarung Johannis. Das Titelblatt ist nicht mehr vorhanden. Darum weiß ich nicht, wer der Verfasser ist und aus welchem Jahre das Werk stammt. Es war Großmutters Hilfsbuch, wenn sie uns die biblischen Geschichten erzählte. Jede dieser Erzählungen war für uns ein Hochgenuß, und damit komme ich auf den größten Vorzug, den Großmutter für uns Kinder hatte, nämlich auf ihre unvergleichliche Gabe, zu erzählen. Großmutter erzählte eigentlich nicht, sondern sie schuf; sie zeichnete; sie malte; sie formte. Jeder, auch der widerstrebendste Stoff gewann Gestalt und Kolorit auf ihren Lippen. Und wenn zwanzig ihr zuhörten, so hatte jeder einzelne von den zwanzig den Eindruck, daß sie das, was sie erzählte, ganz nur für ihn allein erzählte. Und das haftete; das blieb. Mochte sie aus der Bibel oder aus ihrer reichen Märchenwelt berichten, stets ergab sich am Schluß der innige Zusammenhang zwischen Himmel und Erde, der Sieg des Guten über das Böse und die Mahnung, daß Alles auf Erden nur ein Gleichnis sei, weil der Ursprung aller Wahrheit nicht im niedrigen sondern nur im höheren Leben liege. Ich bin überzeugt, daß sie das nicht bewußt und in klarer Absicht tat; dazu war sie nicht unterrichtet genug, sondern es war angeborene Gabe, war Genius, und der erreicht bekanntlich das, was er will, am sichersten, wenn man ihn weder kennt noch beobachtet. Großmutter war eine arme, ungebildete Frau, aber trotzdem eine Dichterin von Gottes Gnaden und darum eine Märchenerzählerin, die aus der Fülle dessen, was sie erzählte, Gestalten schuf, die nicht nur im Märchen, sondern auch in Wahrheit lebten. In meiner Erinnerung tritt zuerst nicht das Märchen von Sitara, sondern das Märchen “von der verloren gegangenen und vergessenen Menschenseele” auf. Sie tat mir so unendlich leid, diese Seele. Ich habe mit meinen blinden, lichtlosen Kindesaugen um sie geweint. Für mich enthielt diese Erzählung die volle Wahrheit. Aber erst nach Jahren, als ich das Leben kennengelernt und mich mit dem Innern des Menschen eingehend beschäftigt hatte, erkannte ich, daß die Kenntnis der Menschenseele in Wirklichkeit verloren und vergessen wurde und daß alle unsere Psychologie bisher nicht imstande war, uns diese Kenntnis zurückzubringen. Ich habe in meiner Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und in die Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt, um nachzudenken, wohin die Verlorene und Vergessene gekommen sei. Ich wollte und wollte sie finden. Da nahm Großmutter mich auf ihren Schoß, küßte mich auf die Stirn und sagte: “Sei still, mein Junge! Gräme dich nicht um sie! Ich habe sie gefunden. Sie ist da!” “Wo?” fragte ich. “Hier, bei mir”, antwortete sie. “Du bist diese Seele, du!” “Aber ich bin doch nicht verloren,” warf ich ein. “Natürlich bist du verloren. Man hat dich herabgeworfen in das ärmste, schmutzigste Ardistan. Aber man wird dich finden; denn wenn alle, alle dich vergessen haben, Gott hat dich nicht vergessen.” — Ich begriff das damals nicht; ich verstand es erst später, viel, viel später. Eigentlich war in dieser meiner frühen Knabenzeit jedes lebendige Wesen nur Seele, nichts als Seele. Ich sah nichts. Es gab für mich weder Gestalten noch Formen, noch Farben, weder Orte noch Ortsveränderungen. Ich konnte die Personen und Gegenstände wohl fühlen, hören, auch riechen; aber das genügte nicht, sie mir wahr und plastisch darzustellen. Ich konnte sie mir nur denken. Wie ein Mensch, ein Hund, ein Tisch aussieht, das wußte ich nicht; ich konnte mir nur innerlich ein Bild davon machen, und dieses Bild war seelisch. Wenn jemand sprach, hörte ich nicht seinen Körper, sondern seine Seele. Nicht sein Aeußeres, sondern sein Inneres trat mir näher. Es gab für mich nur Seelen, nichts als Seelen. Und so ist es geblieben, auch als ich sehen gelernt hatte, von Jugend an bis auf den heutigen Tag. Das ist der Unterschied zwischen mir und anderen. Das ist der Schlüssel zu meinen Büchern. Das ist die Erklärung zu allem, was man an mir lobt, und zu allem, was man an mir tadelt. Nur wer blind gewesen ist und wieder sehend wurde, und nur wer eine so tief gegründete und so mächtige Innenwelt besaß, daß sie selbst dann, als er sehend wurde, für lebenslang seine ganze Außenwelt beherrschte, nur der kann sich in alles hineindenken, was ich plante, was ich tat und was ich schrieb, und nur der besitzt die Fähigkeit, mich zu kritisieren, sonst_keiner! Ich war die ganze Zeit des Tages nicht bei den Eltern, sondern bei Großmutter. Sie war mein alles. Sie war mein Vater, meine Mutter, meine Erzieherin, mein Licht, mein Sonnenschein, der meinen Augen fehlte. Alles, was ich in mich aufnahm, leiblich und geistig, das kam von ihr. So wurde ich ihr ganz selbstverständlich ähnlich. Was sie mir erzählte, das erzählte ich ihr wieder und fügte hinzu, was meine kindliche Phantasie teils erriet und teils erschaute. Ich erzählte es den Geschwistern und auch anderen, die zu mir kamen, weil ich nicht zu ihnen konnte. Ich erzählte in Großmutters Tone, mit ihrer Sicherheit, die keinen Zweifel duldete. Das klang altklug und überzeugte. Es verlieh mir den Nimbus eines über sein Alter hinaus sehr klugen Kindes. So kamen auch Erwachsene, um mir zuzuhören, und ich wäre vielleicht zum Orakel oder zum Wunderkind verdorben worden, wenn Großmutter nicht so sehr bescheiden, wahr und klug gewesen wäre, da, wo ich in Gefahr stand, einzuspringen. Einem blinden Kind wird wenig Arbeit gegeben. Es hat mehr Zeit, zu denken und zu grübeln als andere Kinder. Da kann es leicht klüger erscheinen, als es ist. Leider besaß Vater nicht diese kluge Bescheidenheit der Großmutter und auch nicht die schweigsame Bedachtsamkeit der Mutter. Er sprach sehr gern und übertrieb, wie wir bereits wissen, in allem, was er tat und was er sagte. So kam es, daß ich dem Schicksal, dem ich hier entging, später doch noch verfiel, dem entsetzlichen Schicksal, totgelobt zu werden. Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon derart entwickelt und in seinen späteren Grundzügen festgelegt, daß selbst die Welt des Lichtes, die sich nun vor meinen Augen öffnete, nicht die Macht besaß, den Schwerpunkt, der in meinem Innern lag, zu sich hinauszuziehen. Ich blieb ein Kind für alle Zeit, ein um so größeres Kind, je größer ich wurde, und zwar ein Kind, in dem die Seele derart die Oberhand besaß und noch heute besitzt, daß keine Rücksicht auf die Außenwelt und auf das materielle Leben mich jemals bestimmen kann, etwas zu unterlassen, was ich für seelisch richtig befunden habe. Und so lange ich lebe, habe ich unausgesetzt die Erfahrung gemacht, daß es dem Volke genau ebenso ergeht wie mir. Es handelt am liebsten nicht aus äußerlichen Gründen, sondern aus sich selbst heraus, aus seiner Seele heraus. Die größten und schönsten Taten der Nation wurden aus ihrem Innern heraus geboren. Und wäre der Geist eines Dichters auch noch so stark und noch so erfinderisch, so wird er es doch niemals fertig bringen der Geschichte eines Volkes den Stoff zu einem großen, nationalen Drama aufzuzwingen, der diesem Volke nicht seelisch gegeben war. Und gründen wir hunderte von Jugendschriftenvereinen, von Jugendschriftenkommissionen und tausende von Jugend-, Schüler- und Volksbibliotheken, wir werden das Gegenteil von dem erreichen, was wir erreichen wollen, falls wir Bücher wählen, deren Bedürfnis nur in unserm Pedantismus und in unserer Methodik liegt, nicht aber in den Seelen derer, denen wir sie aufzwingen. Ich habe diese Seelen kennengelernt, habe sie studiert seit meiner Jugendzeit. Ich bin selbst eine solche Seele gewesen, bin sie sogar noch heut. Darum weiß ich, daß man dem Volke und der Jugend keine Tugendmusterbücher in die Hand geben darf, weil es eben keinen Menschen gibt, der ein Tugendmuster ist. Der Leser will Wahrheit, will Natur. Er haßt die sittlichen Haubenstöcke, die immer genauso stehen, wie man sie stellt, weder Fleisch noch Blut besitzen und genau nur das anhaben, was ihnen von der Putzmacherin Schulmoralität angezogen wird. Die Aufgabe des Jugendschriftstellers besteht nicht darin, Gestalten zu schaffen, die in jeder Lage so überaus köstlich einwandfrei handeln, daß man sie unbedingt überdrüssig wird, sondern seine größte Kunst besteht darin, daß er von seinen Figuren getrost die Fehler und Dummheiten machen läßt, vor denen er die jugendlichen Leser bewahren will. Es ist tausendmal besser, er läßt seine Romanfiguren zugrunde gehen, als daß der ergrimmte Knabe hingeht, um das Böse, das nicht geschah, obgleich es der Wahrheit nach geschehen mußte, nun seinerseits aus dem Buche in das Leben zu übertragen. Hier liegt die Achse, um die sich unsere Jugend- und Volksliteratur zu drehen hat. Musterknaben und Mustermenschen sind schlechte Vorbilder; sie stoßen ab. Man zeige Negatives, aber lebenswahr und packend, so wird man Positives erreichen. Nachdem wir zu Miete gezogen waren, wohnten wir am Marktplatze, auf dessen Mitte die Kirche stand. Dieser Platz war der Lieblingsspielplatz der Kinder. Gegen Abend versammelten sich die älteren Schulknaben unter dem Kirchentore zum Geschichtenerzählen. Das war eine höchst exklusive Gesellschaft. Es durfte nicht jeder hin. Kam einer, den man nicht wollte, so machte man keinen “Summs”; der wurde fortgeprügelt und kehrte gewiß nicht wieder. Ich aber kam nicht, und ich bat auch nicht, sondern ich wurde geholt, obgleich ich erst fünf Jahre alt war, die Andern aber dreizehn und vierzehn Jahre. Welch eine Ehre! So etwas war noch niemals dagewesen! Das hatte ich der Großmutter und ihren Erzählungen zu verdanken! Zunächst verhielt ich mich still und machte den Zuhörer, bis ich alle Erzählungen kannte, die hier im Schwange waren. Man nahm mir das nicht übel, denn ich hatte erst vor Kurzem sehen gelernt, hielt die Augen noch halb verbunden und wurde von Allen geschont. Dann aber, als das vorüber war, wurde ich herangezogen. Alle Tage ein anderes Märchen, eine andere Geschichte, eine andere Erzählung. Das war viel, sehr viel verlangt; aber ich leistete es, und zwar mit Vergnügen. Großmutter arbeitete mit. Was ich in der Dämmerstunde zu erzählen hatte, das arbeiteten wir am frühen Morgen, noch ehe wir unsere Morgensuppe aßen, durch. Dann war ich, wenn ich an das Kirchtor kam, wohlvorbereitet. Unser schönes Buch “Der Hakawati” gab Stoff für lange Zeit. Hierzu kam, daß dieser Stoff sich mit der Zeit ganz außerordentlich vermehrte, doch freilich nicht im Buche, sondern in mir. Das war die sehr einfache und sehr natürliche Folge davon, daß ich nach meinem Sehendwerden die seelische Welt, die durch den Hakawati in mir entstanden war, nun in die sichtbare Welt der Farben, Formen, Körper und Flächen zu übersetzen hatte. Dadurch entstanden unzählige Variationen und Vervielfältigungen, die ich nur dadurch, daß ich sie erzählte, in feste Gestalt und Form zu bringen vermochte. Inzwischen hatte Vater es erreicht, daß ich in die Schule gehen durfte. Das durfte man erst vom sechsten Lebensjahr an; aber meine Mutter war als Hebamme sehr oft bei dem Herrn Pastor, der ihr diesen Wunsch als Lokalschulinspektor sehr gern erfüllte, und mit dem Herrn Elementarlehrer Schulze kam Vater wöchentlich zweimal zusammen, um Skat oder Schafkopf zu spielen, und darum hielt es nicht schwer, die Erlaubnis auch von dieser Seite zu erlangen. Ich lernte sehr schnell lesen und schreiben, denn Vater und Großmutter halfen dabei, und dann, als ich das konnte, glaubte Vater die Zeit gekommen, das, was er mit mir vorhatte, zu beginnen. Es sollte sich nämlich an mir erfüllen, was sich an ihm nicht erfüllt hatte. Er hatte im Forsthause einen Blick in bessere und menschlichere Verhältnisse tun dürfen. Und er mußte immer daran denken, daß es unter unsern Vorfahren bedeutende Männer gegeben hatte, von denen wir, ihre Nachkommen, sagen mußten, daß wir ihrer nicht würdig seien. Er hatte das werden gewollt, war aber von den Verhältnissen gewaltsam niedergehalten worden. Das kränkte und das ärgerte ihn. Für sich hatte er mit diesen Verhältnissen abgeschlossen. Er mußte bleiben, was er war, ein armer, ungebildeter Professionist. Aber er übertrug seine Wünsche und Hoffnungen und alles Andere nun auf mich. Und er nahm sich vor, alles Mögliche zu tun und nichts zu versäumen, aus mir den Mann zu machen, welcher zu werden ihm versagt gewesen war. Das kann man gewiß nur löblich von ihm nennen. Nur kam es darauf an, welchen Weg und welche Weise er meiner Erziehung gab. Er wollte, was für mich gut und glücklich war. Das konnte er nur mit guten und glücklichen Mitteln erreichen. Leider aber muß ich, ohne der Zukunft vorzugreifen, sagen, daß meine “Kindheit” jetzt, mit dem fünften Jahre, zu Ende war. Sie starb in dem Augenblick, an dem ich die Augen zum Sehen öffnete. Was diese armen Augen von da an bis heut zu sehen bekamen, war nichts als Arbeit und Arbeit, Sorge und Sorge, Leid und Leid, bis zur heutigen Qual am Marterpfahl, an dem man mich schier ohne Ende peinigt. — — — _________ III Keine Jugend. _____ Du liebe, schöne, goldene Jugendzeit! Wie oft habe ich dich gesehen, wie oft mich über dich gefreut! Bei Andern, immer nur bei Andern! Bei mir warst du nicht. Um mich gingst du herum, in einem weiten, weiten Bogen. Ich bin nicht neidisch gewesen, wahrlich nicht, denn zum Neid habe ich überhaupt keinen Platz in mir; aber wehe hat es doch getan, wenn ich den Sonnenschein auf dem Leben Anderer liegen sah, und ich stand so im hintersten, kalten Schattenwinkel. Und ich hatte doch auch ein Herz, und ich sehnte mich doch auch nach Licht und Wärme. Aber Liebe muß sein, selbst im allerärmsten Leben, und wenn dieser Aermste nur will, so kann er reicher als der Reiche sein. Er braucht nur in sich selbst zu suchen. Da findet er, was ihm das Geschick verweigert, und kann es hinausgeben an alle, alle, von denen er nichts bekommt. Denn wahrlich, wahrlich, es ist besser, arm und doch der Gebende zu sein, als reich und doch der immer nur Empfangende! Hier ist es wohl am Platze, einen Irrtum, in dem man sich über mich befindet, gleich von vornherein aufzuklären. Man hält mich nämlich für sehr reich, sogar für einen Millionär; das bin ich aber nicht. Ich hatte bisher nur mein “gutes Auskommen,” weiter nichts. Selbst hiermit wird es höchst wahrscheinlich zu Ende sein, denn die nimmer ruhenden Angriffe gegen mich müssen endlich doch erreichen, was man mit ihnen erreichen will. Ich mache mich mit dem Gedanken vertraut, daß ich genau so sterben werde, wie ich geboren bin, nämlich als ein armer, nichts besitzender Mensch. Das tut aber nichts. Das ist rein äußerlich. Das kann an meinem inneren Menschen und seiner Zukunft gar nichts ändern. Die Lüge, daß ich Millionär sei, daß mein Einkommen 180 000 Mark betragen habe, stammt von einem raffinierten, sehr klug vorausberechnenden Gegner, der ein scharfer Menschenkenner ist und sich keinen Augenblick bedenkt, diese Menschenkenntnis selbst gegen die Stimme des Gewissens in Gewinn und Vorteil umzusetzen. Er wußte sehr wohl, was er tat, als er seine Lüge in die Zeitungen lanzierte. Er erweckte dadurch den allerniedrigsten und allerschlimmsten Feind gegen mich, den Neid. Die früheren Angriffe gegen mich sind jetzt kaum der Rede wert. Aber seit man mich im Besitz von Millionen wähnt, geht man geradezu gnaden- und erbarmungslos gegen mich vor. Sogar in den Artikeln sonst ganz achtbarer und humaner Kritiker spielt diese Geldgehässigkeit eine Rolle. Es berührt unendlich peinlich, Leute, die sich in jedem anderen Falle als litararische [sic] Kavaliere erweisen, auf diesem ordinären Gaul herumreiten zu sehen! Ich besitze ein schuldenfreies Haus, in dem ich wohne, und ein kleines Kapital als eisernen Bestand für meine Reisen, weiter nichts. Von dem, was ich einnehme, bleibt nichts übrig. Das reicht grad aus für meinen bescheidenen Haushalt und für die schweren Opfer, die ich den mir aufgezwungenen Prozessen zu bringen habe. Früher konnte ich meinem Herzen Genüge tun und gegen arme Menschen, besonders gegen arme Leser meiner Bücher, mildtätig sein. Das hat nun aufgehört. Zwar werde ich infolge jener raffinierten Millionenlüge jetzt mehr als je mit Zuschriften gepeinigt, in denen man Geld von mir verlangt, aber ich kann leider nicht mehr helfen, und fast ein Jeder, den ich abweisen muß, fühlt sich enttäuscht und wird zum Feinde. Ich konstatiere, daß jene Gewissenlosigkeit, mich als einen steinreichen Mann zu schildern, mir mehr, viel mehr geschadet hat als alle gegnerischen Kritiken und sonstigen Feindseligkeiten zusammengenommen. Nach dieser Abschweifung, die ich für nötig hielt, nun wieder zurück zur “Jugend” dieses angeblichen “Millionärs”, der nach ganz anderen Schätzen strebt als alle die, welche ihn auszubeuten trachten. Es waren damals schlimme Zeiten, zumal für die armen Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat liegt. Dem gegenwärtigen Wohlstande ist es fast unmöglich, sich vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgange der vierziger Jahre dort durch das Leben hungerte. Arbeitslosigkeit, Mißwuchs, Teuerung und Revolution, diese vier Worte erklären Alles. Es mangelte uns an fast Allem, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft gehört. Wir baten uns von unserem Nachbarn, dem Gastwirt “Zur Stadt Glauchau”, des Mittags die Kartoffelschalen aus, um die wenigen Brocken, die vielleicht noch daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden. Wir gingen nach der “roten Mühle” und ließen uns einige Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um irgend etwas Nahrungsmittelähnliches daraus zu machen. Wir pflückten von den Schutthaufen Melde, von den Rainen Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich, um das zu kochen und mit ihm den Magen zu füllen. Die Blätter der Melde fühlen sich fettig an. Das ergab beim Kochen zwei oder drei kleine Fettäuglein, die auf dem Wasser schwammen. Wie nahrhaft und wie delikat uns das erschien! Glücklicherweise gab es unter den vielen Webern des Ortes, die arbeitslos waren, auch einige wenige Strumpfwirker, deren Geschäft nicht ganz zum Stillstehen kam. Sie webten Handschuhe, so außerordentlich billige weiße Handschuhe, die man den Leichen anzieht, ehe sie begraben werden. Es gelang Mutter, solche Leichenhandschuhe zum Nähen zu bekommen. Da saßen wir nun alle, der Vater ausgenommen, von früh bis abends spät und stichelten darauf los. Mutter nähte die Daumen, denn das war schwer, Großmutter die Längen mit dem kleinen Finger und ich mit den Schwestern die Mittelfinger. Wenn wir recht sehr fleißig waren, hatten wir alle zusammen am Schluß der Woche elf oder sogar auch zwölf Neugroschen verdient. Welch ein Kapital! Dafür gab es für fünf Pfennig Runkelrübensyrup, auf fünf Dreierbrötchen gestrichen; die wurden sehr gewissenhaft zerkleinert und verteilt. Das war zugleich Belohnung für die verflossene und Anregung für die kommende Woche. Während wir in dieser Weise fleißig daheim arbeiteten, hatte Vater ebenso fleißig auswärts zu tun; leider aber war seine Arbeit mehr ehrend als nährend. Es galt nämlich, den König Friedrich August und die ganze sächsische Regierung vor dem Untergange zu retten. Vorher hatte man grad das Entgegengesetzte gedacht: Der König sollte abgesetzt und die Regierung aus dem Lande gejagt werden. Das wollte man fast in ganz Sachsen; aber in Hohenstein und Ernsttal kam man sehr bald hiervon zurück, und zwar aus den vortrefflichsten Gründen; es war nämlich zu gefährlich! Die lautesten Schreier hatten sich zusammengetan und einen Bäckerladen gestürmt. Da kam die heilige Hermandad und sperrte sie alle ein. Sie fühlten sich zwar einige Tage lang als politische Opfer und Märtyrer groß und mächtig, aber ihre Frauen wollten von solchem Heldentum nichts wissen; sie sträubten sich mit aller Gewalt dagegen. Sie kamen zusammen; sie gingen auseinander; sie liefen auf und ab; sie gewannen die anderen Frauen; sie politisierten; sie diplomatisierten; sie drohten; sie baten. Ruhige, vernünftige Männer gesellten sich zu ihnen. Der alte, ehrwürdige Pastor Schmidt hielt Friedensreden. Der Herr Stadtrichter Layritz auch. Der Polizist Eberhardt ging von Haus zu Haus und warnte vor den schrecklichen Folgen der Empörung; der Wachtmeister Grabner sekundierte ihm dabei. Am großen Kirchentor erzählten sich die Jungens in der Abenddämmerung nur noch vom Erschossenwerden, vom Aufgehangenwerden und ganz besonders vom Schafott, welches derart beschrieben wurde, daß Jedermann, der es hörte, sich mit der Hand nach Hals und Nacken griff. So kam es, daß die Stimmung sich ganz gründlich änderte. Von der Absetzung des Königs war keine Rede mehr. Im Gegenteil, er hatte zu bleiben, denn einen besseren als ihn konnte es nirgends geben. Von jetzt an galt es nicht mehr, ihn zu vertreiben, sondern ihn zu beschützen. Man hielt Versammlungen ab, um zu beraten, in welcher Weise dies am besten geschehe, und da allüberall vom Kampf und Krieg und Sieg gesprochen wurde, so verstand es sich ganz von selbst, daß auch wir Jungens uns nicht nur in kriegerische Stimmungen, sondern auch in kriegerische Gewänder und kriegerische Heldentaten hineinarbeiteten. Ich freilich nur von ferne, denn ich war zu klein dazu und hatte keine Zeit; ich mußte Handschuhe nähen. Aber die anderen Buben und Mädels standen überall an den Ecken und Winkeln herum, erzählten einander, was sie daheim bei den Eltern gehört hatten, und hielten höchst wichtige Beratungen über die beste Art und Weise, die Monarchie zu erhalten und die Republik zu hintertreiben. Besonders über eine alte, böse Frau war man empört. Die war an Allem schuld. Sie hieß die Anarchie und wohnte im tiefsten Walde. Aber des Nachts kam sie in die Städte, um die Häuser niederzureißen und die Scheunen anzubrennen; so eine Bestie! Glücklicherweise waren unsere Väter lauter Helden, von denen keiner sich vor irgend Jemand fürchtete, auch nicht vor dieser ruppigen Anarchie. Man beschloß die allgemeine Bewaffnung für König und Vaterland. In Ernsttal gab es schon seit alten Zeiten eine Schützen- und eine Gardekompagnie. Die erstere schoß nach einem hölzernen Vogel, die letzere [sic] nach einer hölzernen Scheibe. Zu diesen beiden Kompagnieen sollten noch zwei oder drei andere gegründet werden, besonders auch eine polnische Sensenkompagnie zum Totstechen aus der Ferne. Da stellte es sich denn heraus, daß es in unserem Städtchen eine ganz ungewöhnliche Menge von Leuten gab, die ungemein kriegerisch veranlagt waren, strategisch sowohl als auch taktisch. Man wollte keinen von ihnen missen. Man zählte sie. Es waren dreiunddreißig. Das stimmte sehr gut und rechnete sich glatt aus, nämlich: Man brauchte pro Kompagnie je einen Hauptmann, einen Oberleutnant und einen Leutnant; wenn man zu den Schützen und der Garde noch neun neue Kompagnieen formte, so ergab das in Summa elf, und alle dreiunddreißig Offiziere waren unter Dach und Fach. Dieser Vorschlag wurde ausgeführt, wobei die Kopfzahl der einzelnen Kompagnieen ganz selbstverständlich nur klein bemessen sein konnte; aber der Tambourmajor, Herr Strumpfwirkermeister Löser, der beim Militär gestanden und darum alle dreiunddreißig Offiziere einzuexerzieren hatte, behauptete, dies sei nur vorteilhaft, denn je kleiner eine Kompagnie sei, desto weniger Leute könnten im Kriege von ihr weggeschossen werden, und so blieb es bei dem, was beschlossen worden war. Mein Vater war Hauptmann der siebenten Kompagnie. Er bekam einen Säbel und eine Signalpfeife. Aber er war mit dieser Charge nicht zufrieden; er trachtete nach höherem. Darum beschloß er, sobald er ausexerziert war, sich ganz heimlich, ohne daß irgend Jemand etwas davon bemerkte, im “höheren Kommando” einzuüben. Und da er mich ausersah, ihm dabei behilflich zu sein, so wurde ich einstweilen vom Handschuhnähen dispensiert und wanderte mit ihm tagtäglich hinaus in den Wald, wo auf einer rings von Büschen und Bäumen umgebenen Wiese unsere geheimen Evolutionen vorgenommen wurden. Vater war bald Leutnant, bald Hauptmann, bald Oberst, bald General; ich aber war die sächsische Armee. Ich wurde erst als “Zug”, dann als ganze Kompagnie einexerziert. Hierauf wurde ich Bataillon, Regiment, Brigade und Division. Ich mußte bald reiten, bald laufen, bald vor und bald zurück, bald nach rechts und bald nach links, bald angreifen und bald retirieren. Ich war zwar nicht auf den Kopf gefallen und hatte Lust und Liebe zur Sache. Aber ich war noch so jung und klein, und so kann man sich bei dem jähen Temperamente meines Generals wohl denken, daß es mir nicht möglich war, mich in so kurzer Zeit von der einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur vollzähligen, gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die Strenge der militärischen Disziplin an mir erfahren zu haben. Aber ich weinte bei keiner Strafe; ich war zu stolz dazu. Eine sächsische Armee, welche weint, die gibt es nicht! Auch ließ der Lohn nicht auf sich warten. Als Vater Vizekommandant geworden war, sagte er zu mir: “Junge, dazu hast du viel geholfen. Ich baue dir eine Trommel. Du sollst Tambour werden!” Wie das mich freute! Und es gab Augenblicke, in denen ich wirklich der Ueberzeugung war, alle diese Püffe, Stöße, Hiebe und Katzenköpfe nur zum Wohle und zur Rettung des Königs von Sachsen und seines Ministeriums empfangen zu haben! Wenn er das wüßte! Die Trommel bekam ich, denn Vater hielt stets Wort. Der Klempnermeister Leistner am Markt in Hohenstein war ihm behilflich, sie zu bauen. Es war eine sehr gut gelungene Solotrommel; sie existiert noch heut. Ich bin später, als ich etwas größer war, doch auch noch als Knabe, Tambour bei der siebenten Kompagnie gewesen und werde diese Trommel noch einmal zu erwähnen haben. Die elf Kompagnieen taten ihre Schuldigkeit. Sie exerzierten fast täglich, wozu mehr als genug Zeit vorhanden war, weil es keine Arbeit gab. Wie wir trotzdem existieren konnten und wovon wir eigentlich gelebt haben, das kann ich heute nicht mehr sagen; es kommt mir wie ein Wunder vor. Es gab auch an andern Orten “Königsretter”. Die standen miteinander in Verbindung und hatten beschlossen, sobald der Befehl dazu gegeben werde, nach Dresden aufzubrechen und für den König alles zu wagen, unter Umständen sogar das Leben. Und eines schönen Tages kam er, dieser Befehl. Die Signalhörner erklangen; die Trommeln wirbelten. Aus allen Türen strömten die Helden, um sich auf dem Marktplatz zu versammeln. Der Fleischermeister Haase war Regimentsadjutant. Er hatte sich ein Pferd geborgt und saß da mitten drauf. Es war keine leichte Sache für ihn, zwischen dem Kommandanten, dem Vizekommandanten und den Hauptleuten zu vermitteln, denn der Gaul wollte immer anders als der Reiter. Die Frau Stadtrichter Layritz hing eine Tischdecke und ihre Sonntagssaloppe zu den Fenstern heraus. Das war geflaggt. Wer etwas dazu hatte, der machte es ihr nach. Dadurch gewann der Marktplatz ein festlich frohes Angesicht. Man war überhaupt nur begeistert. Keine Spur von Abschiedsschmerz! Niemand hatte das Bedürfnis, von Frau und Kindern besonders Abschied zu nehmen. Lauter Jubel, dreimal hoch, vivat, hurrah an allen Orten! Der Herr Kommandant hielt eine Rede. Hierauf ein grandioser Tusch der Blasinstrumente und Trommeln. Dann die Kommandorufe der einzelnen Hauptleute: “Achtung — — Augen rechts, rrrricht’t euch — — Augen grrrade aus — — G’wehr bei Fuß — — G’wehr auf — — G’wehr präsentiert — — G’wehr über — — Rrrrechts um — — Vorwärts marsch!” Voran der Herr Adjutant auf dem geborgten Pferde, hinter ihm die Musikanten mit dem türkischen Schellenbaum, die Tamboure, sodann der Kommandant und der Vizekommandant, hierauf die Schützen, die Garde und die neun anderen Kompagnieen, so marschierten die Heerscharen links, rechts — links, rechts zur damaligen Hintergasse hinaus und am Zechenteiche vorüber, dem wir damals unsere Frösche anvertrauten, nach Wüstenbrand, um über Chemnitz und Freiberg nach der Hauptstadt zu gelangen. Eine Menge Angehöriger marschierte hinterdrein, um den Mutigen bis an das Weichbild des Städtchens das Geleit zu geben. Ich aber stand bei meinem ganz besonderen Liebling, dem Herrn Kantor Strauch, der unser Nachbar war, an seiner Haustür, dabei die Friederike, seine Frau, die eine Schwester des Herrn Stadtrichters Layritz war. Sie hatten keine Kinder, und ich war berufen, ihnen ihre kleinen wirtschaftlichen Angelegenheiten zu besorgen. Ihn liebte ich glühend; sie aber war mir zuwider, denn sie belohnte alle meine Wege, die ich für sie tat, nur mit angefaulten Aepfeln oder mit teigigen Birnen und erlaubte ihrem Manne nicht, monatlich mehr als nur zwei Zigarren zu rauchen, das Stück zu zwei Pfennige. Die mußte ich ihm vom Krämer holen, weil er sich schämte, so billige selbst zu kaufen, und er rauchte sie im Hofe, weil die Friederike den Tabaksgeruch nicht vertragen konnte. Auch er war heut von dem Anblicke unserer Truppen aufrichtig begeistert. Indem er ihnen nachblickte, sagte er: “Es ist doch etwas Großes, etwas Edles um solche Begeisterung für Gott, für König und Vaterland!” “Aber was bringt sie ein?” fragte die Frau Kantorin. “Das Glück bringt sie ein, das wirkliche, das wahre Glück!” Bei diesen Worten trat er in das Haus; er liebte es nicht, zu streiten. Ich ging nach unserm Hof. Da stand ein Franzäpfelbaum. Unter den setzte ich mich nieder und dachte über das nach, was der Herr Kantor gesagt hatte. Also Gott, König und Vaterland, in diesen Worten liegt das wahre Glück; das wollte und mußte ich mir merken! Später hat dann das Leben an diesen drei Worten herumgemodelt und herumgemeißelt; aber mögen sich die Formen verändert haben, das innere Wesen ist geblieben. Von allen, die heut ausgezogen waren, um große Heldentaten zu verrichten, kam zuerst der geliehene Gaul zurück. Der Herr Adjutant hatte ihn einem Boten übergeben, der ihn heimbrachte, weil Laufen besser sei als Reiten und weil der Reiter nicht genug Geld übrig habe, das Pferd zu ersetzen, falls es im Kampfe verwundet oder gar erschossen werden sollte. Gegen Abend folgte der Webermeister Kretzschmar. Er behauptete, daß er mit seinen Plattfüßen nicht weitergekonnt habe; dies sei ein Naturfehler, den er nicht ändern könne. Als es dunkel geworden war, stellten sich noch einige andere ein, welche aus triftigen Gründen entlassen worden waren und die die Nachricht brachten, daß unser Armeekorps hinter Chemnitz bei Oederan biwakiere und Spione nach Freiburg [sic] geschickt habe, das dortige Schlachtfeld auszukundschaften. Gegen Morgen kam die überraschende, aber ganz und gar nicht traurige Kunde, daß man aus Freiburg [sic] die Weisung erhalten habe, sofort wieder umzukehren; man werde gar nicht gebraucht, denn die Preußen seien in Dresden eingerückt und so stehe für den König und die Regierung nicht das Geringste mehr zu befürchten. Man kann sich wohl denken, daß es heut nun keine Schule und keinerlei Arbeit gab. Auch ich empörte mich gegen das Handschuhflicken. Ich riß einfach aus und gesellte mich den wackeren Buben und Mädels zu, welche elf Kompagnieen bilden und ihren heimkehrenden Vätern entgegen ziehen sollten. Dieser Plan wurde ausgeführt. Wir kampierten bei den Wüstenbränder Teichen und zogen dann, als die Erwarteten kamen, mit ihnen unter klingendem Spiel und Trommelschlag den Schießhausberg hinab, wo unsere verwaisten Frauen und Mütter standen, um uns alle, Groß und Klein, teils gerührt, teils lachend in Empfang zu nehmen. Warum ich das alles so ausführlich erzähle? Des tiefen Eindruckes wegen, den es auf mich machte. Ich habe die Quellen nachzuweisen, aus denen die Ursachen meines Schicksals zusammengeflossen sind. Daß ich trotz allem, was später geschah, niemals auch nur einen einzigen Augenblick im Gottesglauben wankte und selbst dann, wenn das Schicksal mich gegen die harten Tafeln der Gesetze schleuderte, nichts von der Achtung vor diesen Gesetzen verlor, das wurzelt teils in mir selbst, teils aber auch in diesen kleinen Ereignissen der frühen Jugend, die alle mehr oder weniger bestimmend auf mich wirkten. Nie habe ich die Worte meines alten, guten Kantors vergessen, die mir nicht nur zu Fleisch und Blut, sondern zu Geist und Seele geworden sind. Nach diesen Aufregungen kehrte das Leben in seine ruhigen, früheren Bahnen zurück. Ich nähte wieder Handschuhe und ging in die Schule. Aber diese Schule genügte dem Vater nicht. Ich sollte mehr lernen als das, was der damalige Elementarunterricht bot. Meine Stimme entwickelte sich zu einem guten, volltönenden, umfangreichen Sopran. Infolgedessen nahm der Herr Kantor mich in die Kurrende auf. Ich wurde schnell treffsicher und der Oeffentlichkeit gegenüber mutig. So kam es, daß mir schon nach kurzer Zeit die Kirchensoli übertragen wurden. Die Gemeinde war arm; sie hatte für teure Kirchenstücke keine Mittel übrig. Der Herr Kantor mußte sie abschreiben, und ich schrieb mit. Wo das nicht angängig war, da komponierte er selbst. Und er war Komponist! Und zwar was für einer! Aber er stammt aus dem kleinen, unbedeutenden Dörfchen Mittelbach, von blutarmen, ungebildeten Eltern, hatte sich durch das Musikstudium förmlich hindurchgehungert und, bis er Lehrer resp. Kantor wurde, nur in blauen Leinenrock und blaue Leinenhosen kleiden können und sah einen Taler für ein Vermögen an, von dem man wochenlang leben konnte. Diese Armut hatte ihn um die Selbstbewertung gebracht. Er verstand es nicht, sich geltend zu machen. Er war mit allem zufrieden. Ein ganz vorzüglicher Orgel-, Klavier- und Violinspieler, konnte er auch die komponistische Behandlung jedes andern Musikinstrumentes und hätte es schnell zu Ruhm und Verdienst bringen können, wenn ihm mehr Selbstvertrauen und Mut zu eigen gewesen wäre. Jedermann wußte: Wo in Sachsen und den angrenzenden Gegenden eine neue Orgel eingeweiht wurde, da erschien ganz sicher der Kantor Strauch aus Ernsttal, um sie kennenzulernen und einmal spielen zu können. Das war die einzige Freude, die er sich gönnte. Denn mehr werden zu wollen als nur Kantor von Ernsttal, dazu fehlte ihm außer der Beherztheit besonders auch die Erlaubnis der sehr gestrengen Frau Friederike, die ein wohlhabendes Mädchen gewesen war und darum in der Ehe als zweiunddreißigfüßiger “Prinzipal” ertönte, während dem Herrn Kantor nur die Stimme einer sanften “Vox humana” zugebilligt wurde. Sie besaß mit ihrem Bruder gemeinsam einige Obstgärten, deren Erträgnisse mit der äußersten Genauigkeit verwertet wurden, und daß ich von ihr nur angefaulte oder teigige Aepfel und Birnen bekam, das habe ich bereits erwähnt. Sie wußte das aber mit einer Miene zu geben, als ob sie ein Königreich verschenke. Für den unendlich hohen Wert ihres Mannes, sowohl als Mensch wie auch als Künstler, hatte sie nicht das geringste Verständnis. Sie war an ihre Gärten und er infolgedessen an Ernsttal gekettet. Um sein geistiges Dasein und seine seelischen Bedürfnisse bekümmerte sie sich nicht. Sie öffnete keines seiner Bücher, und seine vielen Kompositionen verschwanden, sobald sie vollendet waren, tief in den staubigen Kisten, die unter dem Dache standen. Als er gestorben war, hat sie das alles als Makulatur an die Papiermühle verkauft, ohne daß ich dies verhindern konnte, denn ich war nicht daheim. Welch ein tiefes, von anderen kaum zu fassendes Elend es ist, für das ganze Leben an ein weibliches Wesen gebunden zu sein, welches nur in niederen Lüften atmet und selbst den begabtesten, ja genialsten Mann nicht in bessere Höhen kommen läßt, das ist nicht auszusagen. Mein alter Kantor konnte dieses Elend nur darum ertragen, weil er eine ungemeine Fügsamkeit besaß und hierzu eine Gutmütigkeit, die niemals vergessen konnte, daß er ein armer Teufel, die Friederike aber ein reiches Mädchen und außerdem die Schwester des Herrn Stadtrichters gewesen war. Später gab er mir Orgel-, Klavier- und Violinunterricht. Ich habe bereits gesagt, daß Vater den Bogen zur Violine selbst fertigte. Dieser Unterricht war ganz selbstverständlich gratis, denn die Eltern waren zu arm, ihn zu bezahlen. Damit war die gestrenge Frau Friederike gar nicht einverstanden. Der Orgelunterricht wurde in der Kirche und der Violinunterricht in der Schulstube gegeben; da konnte die Frau Kantorin keine Handhabe finden. Aber das Klavier stand in der Wohnstube, und wenn ich da klopfte, um anzufragen, so kam der Herr Kantor unter zehnmal neunmal mit dem Bescheid heraus: “Es gibt heut keinen Unterricht, lieber Karl. Meine Frau Friederike hält es nicht aus; sie hat Migräne”. Manchmal hieß es auch “sie hat Vapeurs”. Was das war, wußte ich nicht, doch hielt ich es für eine Steigerung von dem, was ich auch nicht wußte, nämlich von der Migräne. Aber daß sich das immer nur dann einstellte, wenn ich klavierspielen kam, das wollte mir nicht gefallen. Der gute Herr Kantor glich das dadurch aus, daß er mich nach und nach, grad wie die Gelegenheit es brachte, auch in der Harmonielehre unterwies, was die Friederike gar nicht zu erfahren brauchte, doch war das in der späteren Knabenzeit, und so weit bin ich jetzt noch nicht. Wie mein Vater sich in Allem ungeduldig zeigte, so auch in dem, was er meine “Erziehung” nannte. Notabene mich “erzog” er; um die Schwestern bekümmerte er sich weniger. Er hatte alle seine Hoffnungen darauf gesetzt, daß ich im Leben das erreichen werde, was von ihm nicht zu erreichen war, nämlich nicht nur eine glücklichere, sondern auch eine geistig höhere Lebensstellung. Denn das muß ich ihm nachrühmen, daß ihm zwar der Wunsch auf ein sogenanntes gutes Auskommen am nächsten stand, daß er aber den höheren Wert auf die kräftige Entwickelung der geistigen Persönlichkeit setzte. Er fühlte das im Innern mehr und deutlicher, als er es in Worten auszudrücken vermochte. Ich sollte ein gebildeter, womöglich ein hochgebildeter Mann werden, der für das allgemeine Menschheitswohl etwas zu leisten vermag; dies war sein Herzenswunsch, wenn er ihn auch nicht grad in diesen, sondern in andern Worten äußerte. Man sieht, er verlangte nicht wenig, aber das war nicht Vermessenheit von ihm, sondern er glaubte stets an das, was er wünschte, und war vollständig überzeugt, es erreichen zu können. Leider aber war er sich über die Wege, auf denen, und über die Mittel, durch welche dieses Ziel zu erreichen war, nicht klar, und er unterschätzte die gewaltigen Hindernisse, die seinem Plane entgegenstanden. Er war zu jedem, selbst zum größten Opfer bereit, aber er bedachte nicht, daß selbst das allergrößte Opfer eines armen Teufels dem Widerstande der Verhältnisse gegenüber kein Gramm, kein Quentchen wiegt. Und vor allen Dingen, er hatte keine Ahnung davon, daß ein ganz anderer Mann als er dazu gehörte, mit leitender Hand derartigen Zielen zuzusteuern. Er war der Ansicht, daß ich vor allen Dingen so viel wie möglich, so schnell wie möglich zu lernen habe, und hiernach wurde mit größter Energie gehandelt. Ich war mit fünf Jahren in die Schule gekommen, aus der man mit vierzehn Jahren entlassen wurde. Das Lernen fiel mir leicht. Ich holte schnell meine zwei Jahre ältere Schwester ein. Dann wurden die Schulbücher älterer Knaben gekauft. Ich mußte daheim die Aufgaben lösen, die ihnen in der Schule gestellt waren. So wurde ich sehr bald klassenfremd, für so ein kleines, weiches Menschenkind ein großes, psychologisches Uebel, von dem Vater freilich so viel wie nichts verstand. Ich glaube, daß sogar nicht einmal die Lehrer ahnten, was für ein großer Fehler da begangen wurde. Sie gingen von der anspruchslosen Erwägung aus, daß ein Knabe, den man in seiner Klasse nichts mehr lehren kann, ganz einfach und trotz seiner Jugend in die nächst höhere Klasse zu versetzen ist. Diese Herren waren alle mehr oder weniger mit meinem Vater befreundet, und so drückte sogar der Herr Lokalschulinspektor ein Auge darüber zu, daß ich als acht- oder neunjähriger Knabe schon bei den elf- und zwölfjährigen saß. In Beziehung auf meine geistigen Fortschritte, zu denen in einer Elementarschule freilich nicht viel gehörte, war dies allerdings wohl richtig; seelisch aber bedeutete es einen großen, schmerzlichen Diebstahl, den man an mir beging. Ich bemerke hier, daß ich sehr scharf zwischen Geist und Seele, zwischen geistig und seelisch unterscheide. Was mir in den Klassen, in die ich meinem Alter nach noch nicht gehörte, für meinen kleinen Geist gegeben wurde, das wurde auf der andern Seite meiner Seele genommen. Ich saß nicht unter Altersgenossen. Ich wurde als Eindringling betrachtet und schwebte mit meinen kleinen, warmen, kindlich-seelischen Bedürfnissen in der Luft. Mit einem Worte, ich war gleich von Anfang an klassenfremd gewesen und wurde von Jahr zu Jahr klassenfremder. Die Kameraden, welche hinter mir lagen, hatte ich verloren, ohne die, bei denen ich mich befand, zu gewinnen. Ich bitte, ja nicht über dieses nur scheinbar winzige, höchst unwichtige Knabenschicksal zu lächeln. Der Erzieher, der sich im Reiche der Menschen- und der Kindesseele auskennt, wird keinen Augenblick zögern, dies ernst, sehr ernst zu nehmen. Jeder erwachsene Mensch und noch viel mehr jedes Kind will festen Boden unter den Füßen haben, den es ja nicht verlieren darf. Mir aber war dieser Boden entzogen. Das, was man als “Jugend” bezeichnet, habe ich nie gehabt. Ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund ist mir nie beschieden gewesen. Die allereinfachste Folge davon ist, daß ich selbst noch heut, im hohen Alter, in meiner Heimat fremd bin, ja fremder noch als fremd. Man kennt mich dort nicht; man hat mich dort nie verstanden, und so ist es gekommen, daß um meine Person sich dort ein Gewebe von Sagen gesponnen hat, die ich ganz unmöglich zu unterschreiben vermag. Das, was ich nach Vaters Ansicht zu lernen hatte, beschränkte sich keineswegs auf den Schulunterricht und auf die Schularbeiten. Er holte allen möglichen sogenannten Lehrstoff zusammen, ohne zu einer Auswahl befähigt zu sein oder eine geordnete Reihenfolge bestimmen zu können. Er brachte Alles, was er fand, herbei. Ich mußte es lesen oder gar abschreiben, weil er meinte, daß ich es dadurch besser behalten könne. Was hatte ich da alles durchzumachen! Alte Gebetbücher, Rechenbücher, Naturgeschichten, gelehrte Abhandlungen, von denen ich kein Wort verstand. Eine Geographie Deutschlands aus dem Jahre 1802, über 500 Seiten stark, mußte ich ganz abschreiben, um mir die Ziffern leichter einzuprägen. Die stimmten natürlich längst nicht mehr! Ich saß ganze Tage und halbe Nächte lang, um mir dieses wüste, unnötige Zeug in den Kopf zu packen. Es war eine Verfütterung und Ueberfütterung sondergleichen. Ich wäre hieran wahrscheinlich zu Grunde gegangen, wenn sich mein Körper nicht trotz der äußerst schmalen Kost so überaus kräftig entwickelt hätte, daß er selbst solche Anstrengungen ganz leidlich ertragen konnte. Und es gab auch Zeiten und Stunden der Erholung. Vater pflegte nämlich keinen Spaziergang und keinen Weg über Land zu machen, ohne mich mitzunehmen. Er pflegte hieran nur eine Bedingung zu knüpfen, nämlich die, daß kein Augenblick der Schulzeit dabei versäumt wurde. Die Spaziergänge durch Wald und Hain waren wegen seiner reichen Pflanzenkenntnisse immer hochinteressant. Aber es wurde auch eingekehrt. Es gab bestimmte Tage und bestimmte Restaurationen. Da kamen der Herr Lehrer Schulze, der Herr Rektor, der reiche Wetzel, der Herr Kämmerer Thiele, der Kaufmann Vogel, der Schützenhauptmann Lippold und andere, um Kegel zu schieben oder einen Skat zu spielen. Vater war stets dabei und ich mit, denn ich mußte. Er meinte, ich gehöre zu ihm. Er sah mich nicht gern mit anderen Knaben zusammen, weil ich da ohne Aufsicht sei. Daß ich bei ihm, in der Gesellschaft erwachsener Männer, gewiß auch nicht besser aufgehoben war, dafür hatte er kein Verständnis. Ich konnte da Dinge hören, und Beobachtungen machen, welche der Jugend am besten vorenthalten blieben. Uebrigens war Vater selbst in der angeregtesten Gesellschaft außerordentlich mäßig. Ich habe ihn niemals betrunken gesehen. Wenn er einkehrte, so war sein regelmäßiges Quantum ein Glas einfaches Bier für sieben Pfennige und ein Glas Kümmel oder Doppelwacholder für sechs Pfennige; davon durfte auch ich mit trinken. Bei besonderen Veranlassungen teilte er ein Stückchen Kuchen für sechs Pfennige mit mir. Niemand hat ihn jemals gewarnt, mich in solche Gesellschaften von Erwachsenen mitzubringen, selbst der Rektor und der Pastor nicht, der sich auch zuweilen einstellte. Diese Herren wenigstens mußten doch wissen, daß ich da selbst auf erlaubten und vollständig reinen Unterhaltungsgebieten als stiller, aber sehr aufmerksamer Zuhörer in Dinge und Verhältnisse eingeweiht wurde, die mir noch Jahrzehnte lang fernzuliegen hatten. Ich wurde nicht frühreif, denn dieses Wort pflegt man nur auf Geschlechtliches zu beziehen, und davon bekam ich nichts zu hören, sondern etwas noch viel Schlimmeres: Ich wurde aus meiner Kindheit herausgehoben und auf den harten, schmutzigen Weg gezerrt, auf dem meine Füße das Gefühl haben mußten, als ob sie auf Glassplittern gingen. Wie wohl ich mich dann fühlte, wenn ich zu Großmutter kam und bei ihr mich in mein liebes, liebes Märchenreich flüchten konnte! Freilich war ich viel zu jung, um einzusehen, daß dieses Reich sich aus der wahrsten, festesten Wirklichkeit erhob. Für mich hatte es keine Füße; es schwebte; es konnte mir erst später, wenn ich mich zum Verständnis emporgearbeitet hatte, die Stütze bieten, die mir so nötig war. Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte, die mich seitdem nicht wieder losgelassen hat. Es gab Theater. Zwar nur ein ganz gewöhnliches, armseliges Puppentheater, aber doch Theater. Das war im Webermeisterhause. Erster Platz drei Groschen, zweiter Platz zwei Groschen, dritter Platz einen Groschen, Kinder die Hälfte. Ich bekam die Erlaubnis, mit Großmutter hinzugehen. Das kostete fünfzehn Pfennige für uns beide. Es wurde gegeben: “Das Müllerröschen oder die Schlacht bei Jena.” Meine Augen brannten; ich glühte innerlich. Puppen, Puppen, Puppen! Aber sie lebten für mich. Sie sprachen; sie liebten und haßten; sie duldeten; sie faßten große, kühne Entschlüsse; sie opferten sich auf König und für Vaterland. Das war es ja, was der Herr Kantor damals gesagt und bewundert hatte! Mein Herz jubelte. Als wir nach Hause gekommen waren, mußte Großmutter mir beschreiben, wie die Puppen bewegt werden. “An einem Holzkreuze,” erklärte sie mir. “Von diesem Holzkreuze, gehen die Fäden hernieder, die an die Glieder der Puppen befestigt sind. Sie bewegen sich, sobald man oben das Kreuz bewegt.” “Aber sie sprechen doch!” sagte ich. “Nein, sondern die Person, die das Kreuz in den Händen hält, spricht. Es ist genauso, wie im wirklichen Leben.” “Wie meinst du das?” “Das verstehst du jetzt noch nicht; du wirst es aber verstehen lernen.” Ich gab keine Ruhe, bis wir die Erlaubnis erhielten, nochmals zu gehen. Es wurde gespielt “Doktor Faust oder Gott, Mensch und Teufel.” Es wäre ein resultatloses Beginnen, den Eindruck, den dieses Stück auf mich machte, in Worte fassen zu wollen. Das war nicht der Göthesche Faust, sondern der Faust des uralten Volksstückes, nicht ein Drama, in dem die ganze Philosophie eines großen Dichters aufgestapelt wurde und auch noch etwas mehr, sondern das war ein direkt aus der tiefsten Tiefe der Volksseele heraus zum Himmel klingender Schrei um Erlösung aus der Qual und Angst des Erdenlebens. Ich hörte, ich fühlte diesen Schrei, und ich schrie ihn mit, obgleich ich nur ein armer, unwissender Knabe war, damals wohl kaum neun Jahre alt. Der Göthesche Faust hätte mir, dem Kinde, gar nichts sagen können; er sagt mir, aufrichtig gestanden, selbst heut noch nicht, was er der Menschheit wahrscheinlich hat sagen wollen und sollen; aber diese Puppen sprachen laut, fast überlaut, und was sie sagten, das war groß, unendlich groß, weil es so einfach, so unendlich einfach war: Ein Teufel, der nur dann zu Gott zurückkehren darf, wenn er den Menschen mit sich bringt! Und die Fäden, diese Fäden; die alle nach oben gehen, mitten in den Himmel hinein! Und alles, alles, was sich da unten bewegt, das hängt am Kreuz, am Schmerz, an der Qual, am Erdenleid. Was nicht an diesem Kreuze hängt, ist überflüssig, ist bewegungslos, ist für den Himmel tot! Freilich kamen mir diese letzteren Gedanken damals noch nicht, noch lange nicht; aber Großmutter sprach sich in dieser Weise, wenn auch nicht so deutlich, aus, und was ich nicht direkt vor Augen sah, das begann ich doch zu ahnen. Ich mußte als Kurrendaner Sonn- und Feiertags zweimal in die Kirche, und ich tat dies gern. Ich kann mich nicht besinnen, jemals einen dieser Gottesdienste versäumt zu haben. Aber ich bin aufrichtig genug, zu sagen, daß ich trotz aller Erbauung, die ich da fand, niemals einen so unbeschreiblich tiefen Eindruck aus der Kirche mit nach Hause genommen habe wie damals aus dem Puppentheater. Seit jenem Abende ist mir das Theater bis auf den heutigen Tag als eine Stätte erschienen, durch deren Tor nichts dringen soll, was unsauber, häßlich oder unheilig ist. Als ich den Herrn Kantor fragte, wer dieses Theaterstück ausgesonnen und niedergeschrieben habe, antwortete er, das sei kein einzelner Mensch, sondern die Seele der ganzen Menschheit gewesen, und ein großer, berühmter deutscher Dichter, Wolfgang Goethe geheißen, habe daraus ein herrliches Kunstwerk gemacht, welches nicht für Puppen, sondern für lebende Menschen geschrieben sei. Da fiel ich schnell ein: “Herr Kantor, ich will auch so ein großer Dichter werden, der nicht für Puppen, sondern nur für lebende Menschen schreibt! Wie habe ich das anzufangen?” Da sah er mich sehr lange und unter einem fast mitleidigen Lächeln an und antwortete: “Fange es an, wie du willst, mein Junge, so werden es doch meist nur Puppen sein, denen du deine Arbeit und dein Dasein opferst.” Diesen Bescheid habe ich freilich erst später verstehen lernen; aber diese beiden Abende haben ohne Zweifel sehr bestimmend auf meine kleine Seele gewirkt. Gott, Mensch und Teufel sind meine Lieblingsthemata gewesen und geblieben, und der Gedanke, daß die meisten Menschen nur Puppen seien, die sich nicht von selbst bewegen, sondern bewegt werden, steht bei allem, was ich tue, im nahen Hintergrunde. Ob Gott, ob der Teufel oder ob ein Mensch, ein Fürst des Geistes oder ein Fürst der Waffen, das Kreuz, von dem die Fäden herunterhängen, in den Händen hält, um das Volk der Menschen zu beeinflussen, das ist niemals sofort, sondern immer nur erst später an den Folgen zu ersehen. Kurze Zeit darauf lernte ich auch Stücke kennen, die nicht von der Volksseele, sondern von Dichtern für das Theater geschrieben worden waren, und das ist der Punkt, an dem ich auf meine Trommel zurückzukommen habe. Es ließ sich eine Schauspielertruppe für einige Zeit in Ernsttal nieder. Es handelte sich also nicht um ein Puppen-, sondern um ein wirkliches Theater. Die Preise waren mehr als mäßig: Erster Platz 50 Pfennige, zweiter Platz 25 Pfennige, dritter Platz 15 Pfennige und vierter Platz 10 Pfennige, nur zum Stehen. Aber trotz dieser Billigkeit blieb täglich über die Hälfte der Sitze leer. Die “Künstler” fielen in Schulden. Dem Herrn Direktor wurde himmelangst. Schon konnte er die Saalmiete nicht mehr bezahlen; da erschien ihm ein Retter, und dieser Retter war — — — ich. Er hatte beim Spazierengehen meinen Vater getroffen und ihm seine Not geklagt. Beide berieten. Das Resultat war, daß Vater schleunigst nach Hause kam und zu mir sagte: “Karl, hole deine Trommel herunter; wir müssen sie putzen!” “Wozu?” fragte ich. “Du hast die Preziosa und alle ihre Zigeuner dreimal über die ganze Bühne herumzutrommeln”. “Wer ist die Preziosa?” “Eine junge, schöne Zigeunerin, die eigentlich eine Grafenstochter ist. Sie wurde von den Zigeunern geraubt. Jetzt kommt sie zurück und findet ihre Eltern. Du bist der Tambour und bekommst blanke